Die Ruhelosen
Konzertsaal.Woran er nicht denken mochte, waren die sieben Schneiderinnen, die sie hatten entlassen müssen, als sein Plan, in Fribourg nach seiner verpatzten Radio-Beromünster-Karriere als Kaufmann von Stoffen und Leder mitsamt einem Atelier de Couture zu reüssieren, hatte aufgegeben werden müssen, und woran er auch nicht denken mochte, war die Einsamkeit, die seine Frau verspüren musste, weil sie auf ihn wartete. Allein.
Also ließ er von seinen Freunden Fotos knipsen von ihm vor einem übergroßen Ford, vor einem übergroßen Cadillac, vor einem übergroßen Chevy oder beim Fußballspiel mit der Radiocrew von WHOA 1400, braungebrannt auf einer Wiese unter Palmen. Immer auf der Suche nach einem neuen Postkartenmotiv, schlenderte er in seiner freien Zeit die Läden ab, schrieb auf die Karten Alltagsmitteilungen, da er wusste, nur eine Liebe, die sich den Alltag zu teilen vermag, war eine wahre Liebe.
Mes chers! Hier die Hauptstraße!!! Damit Ihr Euch ein bisschen zurechtfinden könnt. Große Küsse, Papi,
oder an seine Tochter Emma:
Meine liebe kleine Tochter, voilà, hier ein Blick auf den Strand, an dem ich bade. Gefällt er Dir?? Große Küsse von Deinem Papi.
Wenn er keine Postkarten zur Verfügung hatte, schrieb er auf die rotweißen Pappdeckel, die dem Swiss Chalet in Puerto Rico als Untersetzer dienten, Mitteilungen wie:
Habe nun drei Stunden geübt, warte auf meinen Auftritt. Große Küsse, Papeli.
Denke nur an Dich. Liebe, liebe, liebe Dich. Dein Papeli.
Schrieb er an seine Mondaine, lautete seine Unterschrift seit der Hochzeit Papeli; schrieb er an seine Emma, lautete sie Papi. Auch bei Massimo unterschrieb er mit Papi:
Mein lieber Massimo. Auf dieser Karte kannst Du die ganze Geschichte Puerto Ricos sehen. Alles geht gut. Große Küsse, Papi.
Er schrieb um vierzehn Uhr gleich nach der Radioshow, und er schrieb um ein Uhr dreißig in der Nacht, wenn die letzten Gäste das Swiss Chalet verlassen hatten, um sich nach einem gelungenen schwungvollen Abend der Liebe hinzugeben.
So war es im letzten Jahr gewesen, und so würde es dieses Jahr ohne Zweifel wieder sein. Und genau davor fürchtete er sich, vor dem langen, einsamen Briefeschreiben, als er, einer von 728 Passagieren, die zurzeit auf dem offenen Atlantik fuhren, in der Kabine 522, von seinem Auftraggeber Swiss Chalet für 353,00 US-Dollar angemietet, ein weißes fransiges Tuch aus seinem Geigenkasten nahm und leise weinend seine Violine zu polieren begann.
San Juan, 5./6. März 1958, Mittwochnacht auf Donnerstag 1h 20
Meine liebe kleine Ehefrau, meine Chérie!
In zwei Tagen wirst Du zweiundvierzig, meine Liebe!! Von diesen zweiundvierzig Jahren hast Du mir siebzehn geopfert!! Siebzehn Jahre, die ich Dich liebe, immer und immer mehr, meine Liebe. Nebst meiner großen Liebe habe ich Dir die meiste Zeit nur Sorgen gebracht … aber wisse, meine Liebe, dass ich alles, was ich in meinem Leben gemacht habe, nur deshalb gemacht habe, weil ich hoffte, Dir dadurch das Leben zu erleichtern. Ich habe immer gehofft, Dir mehr geben zu können, mehr bieten zu können, Dich noch mehr verzärteln zu können, leider war ich darin nicht
sehr erfolgreich, aber, meine Liebe, ich liebe Dich von ganzem Herzen, mit all meiner Kraft, und ich bin sicher, dass ich Dir eines Tages all das werde bieten können, was ich mir für Dich so sehr wünsche. Dass ich Dir ein paar Monate voller Glück und ohne Sorgen bescheren kann, ein schönes Leben.
Ich danke Dir, mein Schatz, für all die Geduld, die Du mit mir hast, und dafür, dass Du mir immer den Rücken stärkst. Ich mag vielleicht einen schlechten Charakter haben, ich bin dickköpfig und will immer, dass alles nach meinem Willen geht … aber ich bin auch dickköpfig in meiner Liebe zu Dir, mein Schatz. Das heißt: Mit all meiner Kraft und all meiner Seele liebe ich Dich und bin der Deine.
Mon amour, wenn Du mir wirklich einen großen Gefallen tun willst, dann höre auf zu schreiben, dass Du und Massimo arbeiten gehen wollt! Ich werde Dir schon schreiben, wenn das auch noch nötig sein sollte, aber im Moment reicht doch das Geld, das ich schicke, also bitte denk nicht mehr daran und leb Dein Leben!
Ich wünsche Dir noch einmal einen schönen Geburtstag, leider wieder einer, an dem ich nicht bei Dir sein kann, und ich schicke Dir zusammen mit meinen Worten meine zärtlichsten, meine besten Küsse. Dein Papeli, der Dich liebt.
Musiker, Juden, Zigeuner, dunkles Pack
Küsnacht,
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