Die Ruhelosen
1960
Sie waren nicht das erste Mal da. Dies war bereits ihr zweiter Versuch, die drei freien Zimmer im Dachgeschoss mietweise zugesprochen zu bekommen. Diesmal aber hatte Nunzio Amadeo die Tür geöffnet. Er stand da in seiner ausgebeulten Trenkerkordhose, dem zu engen Hemd mit der verdeckten Knopfleiste und einem abgestoßenen ärmellosen Pullunder von undefinierbarer Farbe – war er beige? war er orange? braun? –, den ihm seine Mutter gestrickt hatte, und sah sich einer elegant zurechtgemachten Kleinfamilie gegenüber: Dame, Herr und Kind.
»Grüezi?«
Die Dame trug ein klassisches Kostüm nach den Maßstäben der Haute Couture. Sie sagte in breitestem Berndeutsch
Grüeßech
und fügte rasch ein Zürcher
Grüezi
an. Ihr Charme lächelte die kleine Verlegenheit weg, und ihre ganze gepflegte Erscheinung, die reizenden Ohrringe, die goldene Türler Uhr an ihrem schmalen Handgelenk, hieß Nunzio Amadeo aufmerksam sein. Er legte die ausgeschnittenen Zeitungsartikel und seine Notizen, die er sich für seine nächste Reportage gemacht hatte, hinter sich auf ein Möbeli. Dabei entging ihm nicht, dass das Mädchen, wie alt mochte es sein?, dreizehn?, vierzehn?, fortwährend Echolotsignale aussandte: Wie findest du mich? Wie habe ich zu sein, damit du mich gut findest? Was muss ich machen, tun, sagen, lassen, damit ich ankomme? Die Kleine hatte eine magische Wirkung auf ihn, dabei gefiel sie ihm gar nicht, mit ihrem dicken dunklen Haar, das trotz deranspruchsvollen Frisur nicht darüber hinwegzutäuschen vermochte, dass es störrisches Haar war, Wirrhaar, das einem die Sinne vernebeln konnte. Und erst ihr spitzes schmales Gesicht, all das verunsicherte ihn. Er spürte den stummen Appell, der von ihr ausging, die tonlosen akrobatischen Versuche, eine Komplizenschaft herzustellen, um einer Not zu entrinnen, die er nicht kannte.
»Bonjour Monsieur«, holte ihn die Stimme des großgewachsenen Herrn mit dem Schnauzbart und den runden Augen zurück, »comment-allez vous? Wie geht es Ihnen?«
Aber Nunzio Amadeo hatte ihn schon beim ersten Mal verstanden, in der Sekundarschule in Gossau hatte er beim Französisch aufgepasst. Er sagte noch einmal: »Grüezi, ja?«
Das Hahnentrittmuster des Kostüms der Dame flackerte hypnotisch vor seinen Augen, als sie lachte, ihre weißen Zähne zeigte, den Kopf ins Genick warf wie eine Dietrich?, Davies?, Hayworth? – und ansetzte: »Wir sind gekommen, um wegen der Wohnung nachzufragen, die bei Ihnen frei geworden ist. Oben, im dritten Stock.«
»Sie waren gestern schon einmal hier?«
»Stimmt. Mein Mann hatte die Ehre, mit ihrer Frau Mama zu sprechen. Aber erlauben Sie, dass wir uns alle auch Ihnen vorstellen. Mein Name ist Mondaine Isra … Ditrich. Und das sind mein Gatte, der Violinist Abel Ditrich, und Emma, unsere Tochter. Mach einen Knicks, Emma!«
Nunzio Amadeo verfiel dieser Frau Ditrich mit ihren schlanken Händen und dem cremefarbenen Modellhut auf Anhieb, er mochte ihr Parfüm, eine schwere, dunkle, rauchige Note, und die Eleganz, die sie im Treppenhaus seiner Eltern verbreitete. Ihr Strahlen war so gegensätzlich zu allem, was er kannte. Sie schien so ein aufgeräumtes, fröhliches Gemüt zu haben, brachte Glanz an die Dorfstraße, was machte es da noch aus, dass ihr Mann Geiger im Paprika war, einem ungarischen Lokal, das nur unweit von hierdes Abends die Gäste mit Musik vor einem von hinten erleuchteten Panoramabild der Budapester Kettenbrücke einwickelte. Man hatte schon über sie geredet, gestern, die Mutter hatte schon ihr Wörtchen zu sagen gewusst, nachdem sie die Türe hinter dem dunklen Mann geschlossen hatte. Musikanten, das war das Letzte, was Alda als Mieterschaft haben wollte, zigeunerndes Pack. Vati Senigaglia sah das lockerer. Auch solche brauchen ein Dach über dem Kopf, sagte er lakonisch, und wir haben eines zu vergeben.
»Wir wollten Ihnen unsere Aufwartung machen. Und, schauen Sie, wir haben Ihnen etwas mitgebracht: eine Einladung ins Paprika für Ihre ganze Familie. Wie viele sind Sie?«
Nunzios Faszination platzte wie ein Ballon, und er lachte. »So viele, wie Sie bestimmt nicht alle verköstigen können. Entschuldigen Sie, ich will nicht taktlos sein«, nur das nicht, nur nicht taktlos sein bei einer, die so viel Takt besaß wie Frau Ditrich, deren Lächeln einen einschmeichelte wie ein lang ersehntes Sonnenbad nach einer andauernden Phase des Hochnebels.
»Ich meine, Sie sollen sich am besten selber ein Bild von uns machen. Violine zu spielen
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