Die Ruhelosen
Tür der Familie gebracht worden war, auf dass er sechs Monate bleibe. Geblieben war er dann fünfzehn Jahre. Danach kam die Ausbildungszeit.
Über seine Mutter hatte er fast nichts gewusst, obwohl seine Pflegeeltern nie etwas gegen sie gesagt hatten, man schwieg doch lieber über das Schwere. Den Vater hatte er ein paar Mal gesehen, zusammen mit einer Frau, très chic, und einem struppigen Mädchen, das wohl seine Halbschwester war. Er hatte dem Vater erzählt, dass es sein Traum sei, Konzertmeister zu werden. Dieser schien nichts dagegen zu haben. Unterstützt hatte er ihn allerdings dabei nicht. Ganz egal. Gabriel verliebte sich jedes Mal neu in den Mann mit den tiefen Bernstein-Goldaugen, dem melancholischen Blick und dem Schnauzbart wie aus einem Bilderbuch. Verliebte sich jedes Mal neu in dessen permanent vor sich hin musizierenden Fingerknöchel, klopf, klopf, klopf auf jede flache Oberfläche, die sich ihm zum Spiele bot.
Einem Mann, der sein Leben macht, verzeiht es sich eben leichter.
Wenn ihn die Großmutter, die strenge Schönheit Cheina Malka, besuchen gekommen war, war das für den jungen Gabriel immer sehr dramatisch. Stets hatte er befürchtet, mit der kühlen Dame mitgehen zu müssen und fort von allem, was er sein Zuhause nannte. Obwohl sie sich gegen ihn nie offen feindselig verhalten hatte, hatte er schon gespürt, dass er der Sohn einer Nichtjüdin war, einer Goia. Und hatte sich für den Makel unartikuliert geschämt.
Aus Gabriel war dann ein solider Banklehrling geworden. Einer, der – Schnapsidee – eines munteren Tages mit einem ganz speziell gemusterten Hemd zur Arbeit gekommen war, nur um den Chef herauszufordern …
Nur um dem fernen Vater für einmal nah zu sein.
Seit drei Jahren war Gabriel schon liiert mit seiner Eliane. Drei zufriedene, herrlich unaufgeregte Jahre. Bald würde er um ihre Hand anhalten. Sie war es, die nie aufgegeben hatte, nach seiner verschollenen Mutter zu suchen. Eh voilà: Sie hatte sie gefunden. In einem Kaff in der Nähe von Gstaad logierte die vorzeitig gealterte Josiane, Dienstmädchen zeitlebens geblieben, in einer Einzimmerwohnung, einem Studio mit Kitchenette. Allein und vereinsamt. Von Krebs und Depressionen zerstört, wie die Vermieterin zu berichten gewusst hatte bei dem kurzen Telefongespräch. Der Verifizierung der Tatsachen, dem letzten Schritt, der dem Kauf eines Bahnbilletts vorangegangen war.
Meine Lebenskraft ist meine Eliane. Die Familie, die ich mit ihr gründen werde.
Das Zimmer, die kleine Dachkammer, die seine Mutter in Gruben bei Gstaad bewohnte, war dann doch schlimmer, als Gabriel es erwartet hatte. Die Laken gehörten dringend gelüftet, das ganze Bett war nassgeschwitzt, und in der Luft hing ein Modergeruch, der in ihm Übelkeit aufsteigen ließ. Die Mutter lag im lotterigen Schrankbett und delirierte vor sich hin. Gabriel hatte diese Reise alleine machen wollen. In diesem Augenblick hätte er sich aber Eliane neben sich gewünscht. Ihre ruhige, besonnene Art, ihr instinktives Wissen um den richtigen nächsten Schritt, ihr blindes Vertrauen in ihn auch und in alles, was er tat.
Mit einem feuchten Tuch strich er der Mutter über die Stirn und wischte ihr den Nacken aus. In den Furchen und Falten erkannte er die Zeichen der Entbehrungen. Male der Schuld, die sie sich selber eingraviert hatte mit ihrem Gram, ihrer grenzenlosen Trauer über den nie verwundenen Doppelverlust.
Ich habe dir vergeben,
flüsterte er ihr ins Ohr,
ich habe dir doch schon so lange vergeben, Maman.
Die meiste Zeit über verweilte seine Mutter an einem herbeiphantasierten Ort, den Gabriel nicht erreichen konnte, schwatzte mit Menschen, die er nicht sehen konnte, und benannte Dinge, die es nicht gab. Nur einmal, so schien es, wachte sie auf aus ihrem Fieberwahn, der Traumduselei. Sie sah ihm mit festem Blick in beide Augen, zog seinen Kopf mit klammerndem Griff nah an sich heran und hauchte erlöst: »Oh, Abel! Du bist zurückgekehrt! Ich habe immer gewusst, dass du eines Tages zu mir zurückkommen würdest. Ich habe so darauf gehofft. Ich habe so sehr auf dich gewartet.«
Teil 5
Mauser. 1965–1989
Trotz seiner erstaunlichen Widerstandsfähigkeit ist das Vogelgefieder natürlich einer Abnützung unterworfen. Es muss von Zeit zu Zeit erneuert werden.
Neubeginn
Küsnacht/Männedorf, 1965
Irgendwann waren dann die Hunde gekommen, eine Tricolor-Colliehündin mit ihren sieben Welpen, und irgendwann, nicht viel später, als
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