Die Ruhelosen
später wohnte man in Männedorf, dreizehn Kilometer weiter den See hinauf, auf einem sonnigen Bödeli, auf dem vor kurzem einige Neubauten errichtet worden waren. Eckig, kantig, kühl, mit einem flachen Dach und modernen Fenstern, die Art, wie sie die Zeit noch und noch hervorbrachte, Massenproduktion, Rationalisierung der Prozesse, Fließbandbauten. Die Parterrewohnung bezogen die werdenden Eltern, die Wohnung im ersten Stock übernahmen Abel und Mondaine.
Emma hatte den Umzug im neunten Monat einigermaßen gut überstanden, sie hielt sich einfach an die Hunde.Fand Trost in einer feuchten Nase, die sie anstupsen kam, fand Trost in bittenden Pfoten, in einem Schweif, der, wie um Vergebung heischend, auf den Boden klopfte, als sei der Hund selbst Grund der Trauer. Um sich aufzuheitern, beklebte Emma die Badezimmerkacheln mit bunten Abziehblumen. Hübschte das Kinderzimmer auf mit selbstgenähten Deckchen. Schnurrte um ihren Mann herum –
verrückt, ich habe einen Mann! Es hat mich einer genommen!
– und lernte fleißig mit, wenn er ihr den Aufbau seines Archivs erklärte. »Wir sammeln alles, was in der Welt passiert, schneiden es aus, kleben es auf und indexieren es nach Stichworten. Wir haben A wie Assimilation und U wie Ueberfremdung – Umlaute werden auf zwei Buchstaben heruntergebrochen. Ein Ü ist ein Ue, ein Ö ist ein Oe, verstehst du?«
Emma fand ihren Mann so überaus bewundernswert, geistreich, gebildet und klug, sie hatte gar nicht genug Worte dafür. In Schwärmereien über ihn ging sie auf wie ein Ofenküchlein. Nur etwas störte sie: dass sie sich dabei selber immer als so unklug, so nicht bewundernswert, so wenig geistreich empfand. Und dick war sie geworden – »wie ein Zeppelin, und im Gesicht ganz aufgedunsen!«.
Die Rohplanie um den Neubau herum war noch nicht fertiggestellt, und Emma hörte mit, wie ihr Mann dem Rapperswiler Kreistelefondirektor die Hölle heiß machte. Nunzio brauchte Leitungen. Leitungen für Telefon, Telex und eine UPI-Leitung, über die er den Nachrichtenticker empfangen konnte. Offenbar wollte der Kreistelefondirektor einfach nicht begreifen, dass es sich bei Nunzio Amadeo Senigaglias Begehren um eine Spezialsache handelte, dass er ein Spezialkunde war; etwas Besonderes, Außerordentliches. Das wusste man doch! Emma spitzte die Ohren.
»Nein, ich verlange ja auch nicht, dass Sie sich um jeden einzelnen Abonnenten selber kümmern müssen!«
»–«
»Was heißt, Sie haben jetzt keine Zeit?«
»–«
»Wenn Sie das jetzt nicht begreifen, kann ich Sie auch um zwei Uhr nachts privat anrufen, vielleicht haben Sie dann Zeit, sich um den einen Spezialwunsch eines Journalisten zu kümmern!«
»–«
»Dann machen Sie endlich!« Er schmetterte den Hörer auf die Gabel des schwarzen Bakelittelefons.
»Nunzio, was war denn da los?«
»Nichts. Aber dieser Sesselhocker von einem Beamten hat einfach nicht begreifen wollen, dass ich ein lächerliches Provisorium brauche, wahrlich kein Ding der Unmöglichkeit, wenn man auch nur ein bisschen Grips im Kopf hat. Ein einfaches Provisorium nur, bis man mir die erforderlichen Leitungen zieht. Mach dir nichts draus. Der weiß jetzt schon, was zu tun ist.«
Noch am selben Nachmittag stiefelten Arbeiter durch den Garten, der noch erdig braun und nicht bepflanzt war, und schlossen Senigaglias an die internationale Welt an. Und damit koppelte sich Nunzio Amadeo von seiner rastlosen Emma erst einmal ab.
Das kannte sie ja schon. Seine fiebrige Arbeit am Fernschreiber, seine Gedankenfetzen, die er zu Notizen auf alles kleckste, was irgendwie Platz anbot, seine Recherchearbeit, wie er es nannte, die Nachforschungen, die er anstellte, um einer Sache auf den Grund zu gelangen, um das Hintere und das Vordere einer Bühne zu erfassen und dadurch zu begreifen, was in der Welt gespielt wurde, wer Gliederpuppe war und wer Intendant.
In ihrem Leben hatte sie jung gelernt, die Spielregeln der anderen zu beachten. Oft kam es ihr so vor, als ob jeder sein eigenes Spiel spielte und sie selbst aber kein eigenes hatte.Einstweilen war das nicht so schlimm. Einstweilen würfelte sie mit, schob ihre Spielfigur artig von Feld zu Feld und wartete ab, ob nicht einmal doch ein Gewinn auf sie abfallen würde.
Emma griff sich die Hundeleinen und ging nach draußen. Es nieselte, und sie wusste, dass ihre Haare danach wieder aussehen würden wie ein dunkelbraunes Nest aus Stroh. Sie knüpfte sich ein weißes Foulard mit roten und blauen und grünen Punkten um
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