Die Ruhelosen
allerdings kaum bemerkte. Er hatte nur noch Augen für sein kleines rotes Glimmlämpchen, das in eine schmucklose Balsaholzmaske gefasst war. Eine Leitung, die er vom Hobbyraum, wo der von der PTT gemietete Telex stand, bis in die Wohnung hinauf gezogen hatte. Ratterte eine Meldung herein, glühte das Lämpchen rot, und Nunzio trabte die Treppenstufen hinunter und verschwand in einem Meer aus Endlospapier, das über den notdürftig mit grauem Nadelfilzteppich ausstaffierten Kellerboden wogte.
Er war da etwas auf der Spur, das er ganz und gar widerwärtig fand. Darauf gestoßen war er, weil Emma seit neuestem als Maskenbildnerin im Theater Kaufleuten in Zürich aushalf, wo sie Perücken knüpfte und Haarteile an Schauspielerinnenköpfen anbrachte. Eine alte Stammkundin, noch aus François Schöns Geschäft und seither befreundet mit Mondaine, hatte den Tipp gegeben: Mit ihrem guten Lehrabschluss wäre eine wie Emma als Aushilfe willkommen. Emma, zu Beginn nur halb begeistert, fand rasch Gefallen daran, mit anderen Bühnenarbeitern und Theaterleuten die Welt hinter den Kulissen zu beleben. Es brachte ihr Abwechslung vom häuslichen Trott, in dem sie sich gefangen fühlte, und die neuen Freiheiten – unterwegs sein ganz allein, Menschen kennenlernen, die nichts mit ihren Eltern oder ihrem Mann zu tun hatten – behagten ihr. Ab und zusang sie vor sich hin während der Arbeit, die ihr bald leicht und sicher von der Hand ging, schnulzige Stücke von Elvis, Schlager von Rex Gildo und natürlich Gitte, sie wusste immer Bescheid, wer gerade welchen Platz in der Hitparade innehatte und trällerte auf Kommando die Plätze zehn bis eins herunter, während ihre Hände geschickt Haarsträhnen teilten und zu Zöpfen flochten. Einmal musste sie für ein Schneewittchen Kunsthaare von einem Meter achtzig Länge auf die Montur knüpfen. »Wenn du das knüpfst, machst du eine Schlaufe und ziehst mit dem dünnen Haken zwei oder drei Haare durch, und weil das so lange Haare sind, musst du aufstehen und ums Eck gehen, damit du das überhaupt festziehen kannst!«, hatte sie Nunzio aufgeregt berichtet.
Am liebsten arbeitete sie mit Echthaar. »Naturhaar kannst du immer wieder verwenden! Du kannst es einfach im Lavabo mit Weichspüler waschen, ein paarmal hin und her schwenken, aufhängen und danach frisch aufdrehen! Ich knüpfe Haare, die sind vierzig und mehr Jahre alt, stell dir einmal vor, Nunzio, so viel älter als ich!«
Woher all diese Haare eigentlich kommen, wollte Nunzio von ihr eines Tages wissen. Sie sagte, sie habe keine Ahnung. Aus Asien halt. Tief hinten, in einem versteckten Winkel ihres Gedächtnisses, erinnerte sie sich an Erzählungen ihrer Mutter, wie diese als Kind Haare ausgekämmt habe und an Schnüren aufgehängt, damit man daraus später Perücken knüpfen konnte. Aber Emma verspürte keine Lust, ihr Halbwissen preiszugeben, und die Wendung, die das Gespräch genommen hatte, gefiel ihr auch nicht. Haare, Perücken, Frisuren – das war ihre Sache. Was hatte jetzt plötzlich Nunzio seine Nase da reinzustecken.
Nunzio hingegen kitzelte und juckte es, er hatte Fährte aufgenommen, er würde sie weiterverfolgen. Wieder einmal packte er die Koffer, wieder einmal trat er eine Reise an, um seinem Ruf als Enthüllungsjournalist Ehre zu tun.
Und was er antraf, fand er haarsträubend. Mittellose indische Bauern und Bauersfrauen opferten ihre zu einem Zopf geflochtenen Haare in Tempeln für ein bisschen Glück. An einem einzigen Tag strömten Hunderte, wenn nicht gar Tausende von Menschen zu verschiedenen Tempeln des Landes, setzten sich in die Reihe, wo ihnen schnipp schnapp von einem der Dutzenden Haarschneider die ganze Pracht abgeschnitten wurde. Ein stetes Scharren und Schaben echote durch die Tempelhallen, und hinter jedem Mann mit einer Klinge stand ein Kind, das die Zöpfe zusammenraffte und in Säcke packte. Emma schauderte.
»Im Minutentakt werden da Köpfe gekahlt, um der Bitte um ein bisschen Nahrung, ein neues Haus, Gesundheit oder Glück den Göttern gegenüber Nachdruck zu verleihen. Geld, Geschenke, Güter, wer nichts zu geben hat, hat immer noch sein Haar.«
Die gekappten Haare wurden gesammelt und nach China verschifft, wo sie völlig ungeschützt von zumeist jugendlichen Arbeiterinnen weiterverarbeitet wurden. Nunzio, empört und wütend zugleich, schimpfte: »Zu einem absoluten Mindestlohn, Emma, müssen sich dort Erwachsene und Kinder für die Modeindustrie der westlichen Welt kaputtschuften.« Denn
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