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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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von seinem Weg abzubringen. Er schien so sicher.
    Aurelio, ihr Aurin, der Goldene. Wie die Sonne, die sie jetzt ohne Wärme zurückgelassen hatte.
    Allein, allein. Ihr Kind fehlte ihr. Seine warme Umarmung. Sein stürmisches Gemüt. Die Sicherheit auf seinen Wegen.
    Himmelsrichtungen, Distanzen. Und das Zeitgefühl. Sie hatte keine Ahnung, wie lange sie schon so gelegen hatte. In ihrem Fußgelenk pochte das Blut. Es tat seine Arbeit. Den Schuh hatte sie sich, wann?, vor Stunden?, eben erst?, aufgeschnürt, so dass sich die Schwellung ausbreiten konnte.
    Sie horchte.
    Nichts.
    Vor ihren geschlossenen Lidern zogen die Bilder vorbei. Sie, in ihrem Zimmer. Ein Plattenteller, der dreht. Die Hunde. Der Wald. Die Vögel im Geäst und Lara, die kläfft. Das Ohr ihrer Schwester, das Aufleuchten in ihrem Blick, wenn sie verstand, ihr Mund, der anstelle Audes sprach. Limonade verspritzte.
    Rasch wurde es kalt.
    Windkalt.
    Kieselkalt.
    Steppenwüstenkalt.
    Sie musste einmal tief durchatmen, in ihrem Rücken, rechts, noch immer ein Schmerz.
    Ihr Körper erinnerte sich nicht mehr.
    Dafür neue Bilder, die kamen.
    Bilder, die ihr so bekannt, so vertraut waren, die sie aber nicht einordnen konnte. Ein Pelikan an der Mole von Rijeka.Vielleicht ein Erinnerungssplitter aus ihrer Kindheit, die langen Autofahrten im 2CV nach Jugoslawien, an den Strand. Schmetterlinge, immer wieder große bunte Imagos. Und dann ein Schiff, das Europa über die Schwelle des Horizonts abhandenkam. Vielleicht auch dies: Splitter einer vergessenen Gegend ihres Gehirns. Vielleicht das Autofährschiff »Tiziano«, mit dem sie als Kind im Hort ihrer Familie von Pescara nach Split übergesetzt war, so viele Sommer, immer wieder, die Eltern, die Schwester, die Hunde und sie.
    Und jetzt Ibiza. Ein Ort, den sie gar nicht kannte. Ihre Mutter wohnte bereits elf Monate dort, war in eine Hippiekommune voller Menschen und Hunde gezogen, und Aude musste einen großen Ärger, einen wallenden Zorn in sich niederringen.
    Also doch keine Liebe zwischen den beiden. Also doch kein Band. Außer von Seiten des Vaters, der seiner Frau nichts in den Weg stellen wollte. Einen verzichtenden Liebesdienst hatte er das genannt, und sie ziehen lassen. Einfach so.
    Das war alles so schwer zu verstehen für Aude!
    Aber warum hatte sie das gemacht, Emma? Was hatte sie dort bloß zu suchen auf den Balearen? Wer will dort schon hin?
    Weit weg ging ein Gewitter über die Steppe nieder. Aude saß da, eingewickelt in sich selbst und ihre Gedanken, und schaute dabei zu, wie Blitze in der Ferne nach der Erde tasteten.
    Es war alles so enttäuschend. Ihre Mutter auf Party-Island, ihr Vater nach wie vor ausschließlich in den Storys, die er recherchierte, auffindbar. Ihre Schwester, nun immerhin hatte sie es endlich geschafft, ein Kind zu bekommen, Fatime, blond, und Aurin ganz vernarrt in sie. Blond und Schwarz und Aurins Gold, das ergab zusammen Bernstein.Abel. Tot. Mondaine? – sie hatte keine Ahnung. Diese Erkenntnis durchfuhr sie schmerzhaft, aber sie hätte nicht zu sagen vermocht, wo ihre Omama zurzeit lebte. War sie geblieben, als Opapa starb? War sie wieder umgezogen? Aude war so beschäftigt gewesen mit ihrer Dissertation – »An Meeresküsten gebundene Vogelarten und ihre Migration ins Binnenland – begünstigende Faktoren am Beispiel der nordeuropäischen Eiderente im Rheindelta« –, dass ihr die Welt entglitten war. Himmelsrichtungen, Distanzen, Zeit und Welt.
    Und um sich wiederzufinden, war sie ausgerechnet in den fernen Osten geflogen. In die Mongolei. Ehemaliges Großreich, jetzt eingequetscht zwischen die Riesen Russland und China. Eingequetscht zwischen ihren Ohren, dehnte eine mongolische Pferdekopfgeige sehnliche Noten, langanhaltende Steppengesänge, die nicht wirklich waren. Aude gab sich den Klängen hin und schloss die Augen.
    Ich bin total allein.
    Ein Tier, irgendein vierbeiniges, stürmte an ihr vorbei. So nah, dass sie den Hauch seines Felles in ihrer Nase hochkriechen spürte, wild, roh, ungezähmt. Zu Hause hier.
    Jesses. Jesses, wenn ich hier nur heil wieder herauskomme …
    Sie spürte ihre Hände kaum mehr, die mongolische Nacht schenkte sich nichts. Es war kalt, und Aude bekam Angst.
    Mit einem Male wurde die Pferdekopfgeige abgelöst, und sie vernahm die Stimme ihrer Omama, wie sie ihr ein ungarisches Verslein vorsingt:
    Kerekecske, gombocska, itt szalad a nyulacska.
    Kerekecske, gombocska, itt szalad a nyulacska.
    Kerekecske, gombocska, itt szalad a

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