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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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nyulacska.
    Ein Plattenteller, der sich endlos drehte.
    Der Zeigefinger ihrer Omama mit kitzelnden Kreiselbewegungen in ihrer Hand. Die offene Handfläche eineskleinen Kindes. Für die Welt bereit. Und so verletzlich, so fein, so klein.
    Rädchen, Knöpfchen, hier läuft das Häschen.
    Konnte das ein Steppenhase gewesen sein?
    War es nicht größer gewesen?
    Ein Hund hätte bestimmt gebellt.
    War es – überhaupt?
    Wenn ich hier jemals heil herauskomme, dann muss ich mich in mein Leben neu einbringen. Ich muss wieder einen Part spielen, ich muss Anschluss finden. Anknüpfen.
    Ja, ich muss mich wieder vertäuen mit dieser Welt.
     
    Dieses und Ähnliches waren Audes Gedanken, als auf stille und einvernehmliche Art eine Taschenlampe durch die Nacht leuchtete und ihr schwere Füße in Mongolenstiefeln entgegenschritten.
Kerekecske, gombocska, itt szalada nyulacska. Rädchen, Knöpfchen, hier läuft das Häschen.
»Aude. Aude, you there?«
    »Tömörsükh – but how? How did you find me?«
    »You don’t know, Aude? Aude, your name,
Od
, in Mongolian it means star. You shine like a star. Get up? Your time in the sky has not yet come.«
    »But?«
    »Take my hand. I’ll lead you back.«

Flüsse, durch ein Leben mäandernd
    Bäch, 1998
    Hier also wohnte sie nun. War in ein Heim gezogen. In die Seniorenpension Pfarrmatte. Aus freiem Willen. Weil sie nicht mehr alleine leben wollte. Dabei war sie noch so rüstig. Gut auf beiden Füßen. Aude staunte still. Sie fand nichts, das auf sie wie das Flair eines Grand Hotel gewirkt hätte. Gut, es war nicht schmuddelig, aber ganz bestimmt nicht Grand, wie ihre Omama am Telefon so fröhlich erzählt hatte. Auch das Essen Durchschnitt. Aber ihr schien es zu gefallen, sie hatte vom Buffet in den hellsten Tönen geschwärmt. Aude blickte sich in dem Einerzimmer um. Vier auf vier Meter, ein Balkon voller Blumen und Gewächs. Im Zimmer selbst das wuchtige Spitalbett mit allem Drum und Dran, dann die weiche Plüschcouch, Opapas Ohrensessel, geschützt durch drapierte Samtstoffe, Goldbrokat an allen Rändern. Auf den Ablageflächen Nippes und der altbekannte Tand. Krimskrams aus Glas und lauter Sächeli, die Mondaine in ihrem Leben angesammelt hatte, materialisierte Erinnerungen. Lebensadern, die in ihren Fingern pulsierten, wenn sie sie berührte. Flüsse, die mäanderten. Eine uralte Schneekugel mit einer wilden Pferdekutsche im Sturm, ein hartledriges Mieder. Figuretten aus Muranoglas, Notenblätter ihres verstorbenen Mannes, seine bestickten Westen, Zigeunerklamotten, Bühnenklamotten. Die Geige, stumm, aber in galanter Schräge an der Wand befestigt, inmitten einer bunten Wiese von Familienfotos.
    »Die schwarzweißen sind hier drin. In dieser Kiste. Aude, hilf mir mal damit.«
    Zusammen bugsierten sie einen eingedellten Pappkarton aus einem Biedermeier. Daraus klaubte die alte Dame, Stück für Stück, was gut zwei Dutzend Fotoalben waren. »Die behalte ich alle. Bis zum Schluss.« Mondaine lächelte. »Da sind auch welche von mir drin, wie ich für Abel posiert habe. Und ich habe oft für ihn posiert« – jetzt wurde ihr Schmunzeln zu einem kecken Grinsen –, »musst nicht meinen, nur weil ich alt bin, hätte ich kein Leben gehabt. Und keine Liebe. Ich hatte beides, Kind.«
    »Du stammst aus Ungarn, nicht wahr?«
    »Wie meinst du? Ich bin Schweizerin, aus Bern. Mein Vater war Ungare, wenn du das meinst. Meine Mutter kam irgendwo aus der Innerschweiz.«
    Aude platzierte den Teekrug auf einem kleinen Nebentischchen. Mondaine breitete die Alben vor ihnen aus, ohne auf Tasse, Zucker, Löffel zu achten. Aude räumte eines ums andere aus dem Weg, ehe sie ihren Voice Recorder auf den Tisch legte und vor ihrer Omama in Position brachte. Mondaines Finger strichen mit zartem Zug über einzelne Bilder, blasse Fotografien von Menschen, die Aude nicht kannte. Sanft drückte Aude die Aufnahmetaste, aber es gab doch ein heiseres Geräusch, und Mondaine hielt inne. Es war, als ob sie bereits weit weg gewesen wäre, grad eben. Eine zweiundachtzigjährige Grande Dame, die von einer Reise zurückkehrt an ihr bescheidenes Tischlein ins Einzimmerappartement einer Seniorenresidenz am oberen Zürichsee. Als wäre sie erschöpft von ihrem Ausflug nach – wohin? Aude wusste es nicht. Sie wollte es herausfinden. Deswegen war sie hier. Deswegen, und weil sie etwas in ihrem Leben geraderücken musste, von dem sie spürte, dass es in Schieflage war. Ein Vormast auf einem Schiff, ein tragender Balken,

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