Die Ruhelosen
auch einmal, schau. Das war in St. Moritz. Da war Emma siebzehn. Wir hatten zwei, drei Saisons gemacht im Suvretta. In Fribourg haben wir zu der Zeit ja noch Abels Schneiderei gehabt. Alles handgewebte Stoffe! Ich sag dir! Und Leder! Glattes und wildes, und Schaffelle en masse – daraus haben wir Canadiennes hergestellt, mit Fell gefütterte dicke Lederjacken. Die kennst du doch noch, Abel hat jeden Winter so eine getragen, jahrelang. Mit sieben Schneiderinnen hatten wir ein Geschäft eröffnet an der Rue Guillimann. Wir sind richtige Stoffexperten geworden in jener Zeit, du! Aber er war so unter Druck von seinen Eltern, die sagten ihm immer: Du musst riskieren, sonst kommst du zu nichts! Und ich habe ihn unterstützt, wo ich konnte. Ich ging auf Reisen, um Kunden zu gewinnen. Zum Glück konnte ich dreimal erben in meinem Leben. Einmal von der Tante, der wiedergefundenen Schwester meiner Mutter, dann von der Mutter und zuletzt vom Vater. Und jedes Mal bin ich so glücklich gewesen, dass ich unsere Schulden habe bezahlen können! Ich habe immer grad zur rechten Zeit geerbt. Ich weiß noch, die Schneiderinnen habe ich mit fünfzehn- oder achtzehntausend Franken ausbezahlt. Und bin auch noch froh gewesen, das zu tun!«
…
»Dein Opapa war ein hervorragender Musiker, aber ein miserabler Geschäftsmann. Dabei wäre er das so gerne gewesen. Ein guter Geschäftsmann. Er war Vollblutmusiker. Als Attraktion ins Restaurant Kindli hat man ihn geholt, das war früher noch ein Begriff in Zürich, das Kindli. Wenn Reise-Cars ankamen, ging man mit den Touristen ins Kindli, dort ist es so richtig Schweizerisch zu- und hergegangen. Essen: wunderbar, alles nicht billig, aber toll. Als Attraktion ging Abel mit seiner Zigeunermusik auf die Bühne. Ja, früher, da hattest du noch Musiker gehabt, gute, Musiker durch und durch!«
…
»Bon, da war er also dort, und auch ein Haufen Amerikaner, und die waren von diesem Abel Ditrich begeistert. Der Inhaber des Swiss Chalet in Puerto Rico hat ihn vom Fleck weg engagiert. So ging das. Als Herausforderung hat Abel das Angebot angenommen. Und in New York konnte er bei einem großen Orchester dabei sein, was für einen Musiker einmalig ist. Sein Name hat schon viel ausgesagt – er hatte viele gute Möglichkeiten. Spielte mit Bing Crosby, mit Ella Fitzgerald, mit Sammy Davis jr., mit vielen der ganz Großen. Drei Jahre war er weg im Ganzen, mit Unterbruch. Und er hat mir jeden Tag Briefe geschrieben.«
…
»Weißt du, Aude, so war mein Leben. Es gab immer Aufs und Abs. Aber das gehört dazu. Und was einzig wichtig ist, ist doch, dass man jemanden hat, den man lieben kann. So wie diese Csöke ihren Hofposticheur, so wie ich den Abel und er mich. Er war mein Ein und Alles, und ich war ihm sein Amimour.«
…
»Jetzt, wo du selber Mutter bist, hast du die Gelegenheit, vieles besser zu machen als ich. Ich war bestimmt nichteinfach als Mutter, ich habe nur für meinen Abel gelebt. Aber bald kommt die Zeit, da wird dein Sohn dir Fragen stellen. Und welche Antworten hast du dann für ihn parat?«
…
»Und wenn es schwierig wird, wirst du jemanden brauchen, der dir Halt gibt, Aude. Hast du jemanden, Aude, mit dem du deine Aufs und Abs leichter nehmen kannst? Eine echte große wahre Liebe? Einen Amimour?«
…
»Ich glaube, Aude, jetzt ist es an der Zeit.«
Herr der Welten
Zürich, 2002
Mit fünfzehn spielte Aurelio Computerspiele und verbrachte seine freie Zeit mit Chatten im Internet. Keine Chance für Aude, ihren Sohn wieder einmal auf Erkundungstour mitzunehmen. Seine Welt war längst schon eine eigene.
Er war der Held sämtlicher Spiele: Age of Empire, Age of Mythology, Age of Wonders, Beyond Atlantis II, Dark Age of Camelot, Caesar III, eroberte jedes noch so unwirtliche Reich und erreichte die höchsten
levels
. Aude ließ ihn gewähren. Solange die Schule nicht darunter litt. Solange er darunter nicht litt. Sie beobachtete ihn genau.
Seit einiger Zeit hatte er angefangen, aufzugehen. Ein knubbeliges pubertäres Jungengesicht. Ein Teig, der zuerst in die Breite und später wieder in die Höhe treibt. Die schwarzen Haare struppig auf dem Kopf, rebellisch fast, die dunkelbraunen Augen verirrt hin und her flackernd im Zwischenreich, das die Kindheit mit dem Erwachsenenalter verband. Solange sie einander in ihren Blicken erkannten, so lange wäre es gut.
In der Schule hatte er sich gegen alle Widerstände durchgesetzt und hielt an seinem Berufsziel fest. Er wollte Erzieher werden,
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