Die Ruhelosen
in einer Kinderkrippe, einem Hort, einem Heim arbeiten. Das ist mein Weg, pflegte er wichtig zu sagen. Dass diese Wahl kein eigentlicher Männerberuf war, kümmerte ihn da wenig. Kurz: Es ließ ihn kalt. Bereits mit fünf hatte er behauptet, er würde dereinst zehn Kinder haben. Und dabei seine Mutter besorgt gefragt, wie er es dennanstellen müsse, um so eine Frau zu finden, die das mitmache. »Und was für ein Auto brauchen wir dann?«
Aude konnte über seine Zielstrebigkeit nur staunen. Offenbar hatte ihre freiheitsliebende Art der Fürsorglichkeit doch etwas Gutes gehabt. Auf ihn und sein Urteil konnte man Städte bauen, Welten. Universen. Er war so klar im Kopf, so sicher. Von einer zweifelsfreien Statik. Keine Unsicherheit in seinem Tun.
Aude schaute ihm noch eine kleine Weile über seine Schultern hinweg zu, wie er sein Alter Ego über den Bildschirm fliegen ließ, dann zog sie sich zurück.
doch die Aare
Bern, 2006
Sie hatten sich dann doch einen stillen Platz ausgesucht, oben an der Aare, so, wie es sich Mondaine gewünscht hatte. Emma trug die Urne, Nunzio einen Kassettenrekorder mit Abels Musik. Tatjana war da, ihr Mann Kaspar und ihre beiden Kinder. Lorine, ihr Mann Jetmir, die Kinder Fatime, Dardan und Luan und schließlich Aude mit Aurelio, der nun erwachsen war, langes nach hinten gekämmtes schwarzes Haar, sorgfältig frisiertes Ziegenbärtchen, von großer Statur, elastisch und stark. Er war es gewesen, der in ruhiger Beharrlichkeit darauf bestanden hatte, seiner Urgroßmutter den letzten Wunsch zu erfüllen und auf ein Grab zu verzichten. Sie wollte nicht unter irgendeiner Erde liegen. Sie wollte in Bewegung bleiben, in Fluss.
Wo das Wasser sanft ans Ufer spülte, richteten sie sich ein.
Nunzio ließ die Musik laufen. Aude fand, dass Abels Violine hier unter den regennassen Bäumen irgendwie fehl am Platze war. Er spielt ja auch für Mondaine und nicht für uns, hatte Aurelio geraunt, und damit hat es sich gehabt.
Lorine verteilte bunte Papierblätter, hellgrün, hellgelb, hellorange und hellblau, auf die jeder einen Wunsch für Mondaine schrieb. Danach faltete Lorine die Blätter geschickt zu kleinen Schiffchen und drückte jedem seines in die Hand.
Es nieselte, und die Regentropfen perlten vom Laub der Frühlingsbäume ab. Neunzig war sie gerade geworden. Doch noch. Mit Hütchen und Handschuhen Grande Dame bis ganz zuletzt. Dann aber hatte sie darum gebeten, manmöge sie bitte an der nächsten Lungenentzündung sterben lassen, es wäre nun an der Zeit, dass sie zu ihrem Papeli gehe, der warte nämlich schon auf sie.
Das war vor wenigen Tagen gewesen. Und der Tod war bei ihr eingetroffen und hatte ihre Seele dem Körper enthoben. Lorine saß an ihrem Bett, Tag für Tag. Und als Mondaine gestorben war, hatte Lorine ihre Schwester Aude angerufen. »Für Fatime. Meine Tochter möchte dich und Aurelio hier bei sich haben. Bitte kommt.«
Aude graute davor, ihre Omama tot zu sehen. Sie war dem Tod stets aus dem Weg gegangen.
Omama lag auf dem Spitalbett, oder eher: Ihr Körper lag dort. Der Kopf unschön nach hinten geknickt, so dass der Mund leicht offen stand, wie eine Höhle zu den Totengräbern, die ihre Zellen von innen nach außen abbauten. Ihre Haut wirkte bereits wächsern. Aude berührte sie nicht. All der Glamour, der Lichthofeffekt um ihr strahlendes Gesicht, verschwunden. Eine steife Hülle nur, die Mondaine Schön, Prinzessli von Bern, wilde Reiterin über Brücken, Tellerwerferin zu Ungarn, leer zurückgelassen hatte.
Aude blickte sich um. Lorine und Aurelio hielten Fatime fest, die schluchzte und weinte, als ob es gar kein Ende nehmen wollte.
»Und du?«, fragte Aude ihre Schwester.
»Für mich geht’s. Im Moment noch. Das Vermissen kommt danach.«
Seit Mondaine vor zwei Jahren miterlebt hatte, wie schön eine Seebestattung sein konnte, war ihr Wunsch zur Bestimmung gereift. Damals hatten sie die Asche ihres Sohnes aus erster Ehe, Massimo Leonardo Ciccioriccio, im oberen Zürichsee den Wellen übergeben. Massimos Tochter Tatjana hatte bunte Luftballone mit Wunschkarten für jeden verteilt, die man gemeinsam in den Himmel steigen ließ, derweil die Asche sanft dem Seeboden entgegenschwebte.
Durch Emma ging ein Beben, als sie den Verschluss der Urne aufdrehte. Die Asche rieselte in groben Flocken in die Aare. Emma schniefte, dann setzte sie die leere Urne auf, als sei sie ein Schiff über den Styx.
Nunzio war ernst und gefasst. Lorine vergrub ihr Gesicht an der Brust ihres
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