Die Ruhelosen
Mannes, Dardan, Fatime und Luan hielten sich bei den Händen. Da kam ein Arm und legte sich um Audes Schultern. Es war Aurelio, der seinen Kopf sanft an den seiner Mutter lehnte.
Internettelefonie
Zürich/Ibiza, 2009
»Wenn schon die Nachrichtensprecherinnen Kinder sind und die Moderatorinnen zur Pickelfraktion gehören! Nein, Mama, ich merke es, ich werde alt. Ich bin letztes Jahr vierzig geworden, ich muss noch einmal etwas Großes tun in meinem Leben.«
»An welches Ziel hast du denn diesmal gedacht?« Insgeheim hoffte Emma, sie würde Aude Ibiza sagen hören, aber es muss wohl an der knittrigen Skype-Verbindung gelegen haben. Was sie verstand, war eine andere Destination und einmal mehr keine Insel.
»Ungarn, Mama. Ich will nach Ungarn fahren. Großtrappen bei der Balz beobachten.«
Autobahnwunder
unterwegs auf der A3, 2009
Fürstentum Liechtenstein also. Im Land der konstitutionellen Erbmonarchie fand ein Treffen unter Ornithologen statt, bei dem sie sich wertvolle Tipps bezüglich ihres Ungarntrips erhoffte. Als Aude ihren Škoda Fabia Greenline, einen umweltbewussten Kombi, anließ, erwog sie, eine neue Strecke auszuprobieren. Am 4. Mai 2009 war die Zürcher Westumfahrung dem Verkehr übergeben worden. Sie könnte also, wenn sie aus der Tiefgarage fuhr, anstatt links in die Stadt abzubiegen, endlich einmal nach rechts drehen, auf die Autobahn, um die neue Verbindung mit den Tunnels kennenzulernen.
Sie schob das Lenkrad nach rechts.
Aus dem Gubristtunnel leuchtete es rot. Stau. Das hätte man wissen können. Dieser eine Tunnel war immer gefährdet, ob zu Haupt- oder zu Nebenverkehrszeiten. Die meisten Automobilisten fuhren zu unvorsichtig, zu brüsk, fuhren einander auf oder fuhren einfach miserabel in Tunnels. Und im Gubristtunnel ganz besonders. Aude hätte daran denken sollen.
Zeit war genug. Ihre eingefleischte Angst, in irgendeiner Weise unangenehm aufzufallen oder überhaupt aufzufallen, hatte auch dieses Mal dafür gesorgt, früh loszufahren. Sie würde, wenn sich der Stau nach dem Tunnel löste, noch immer rechtzeitig ankommen. Und das auch, ohne sich zu hetzen.
Ihr Vordermann wenigstens fuhr vorsichtig, meterweise ließ er seinen Wagen vorwärtsruckeln, ohne dabei dem anderenim Nacken zu sitzen. Nicht so wie der Pajero hinter ihr. Eine unsägliche Mode, dass jede und jeder einen Familienpanzer, ein abgedunkeltes Einfamilienhaus auf Rädern, fahren muss. Sie ärgerte sich. Neben ihr rollten die gigantischen Reifen eines Touaregs vorbei. Danach ein Porsche Cayenne. Wozu um alles in der Welt brauchen die solche Wagen? Hier? Aude dachte an ihre Mongoleireise zurück, als sie in alten russischen Geländewagen über Schotter, Kies und Eis gefahren waren, eine Gruppe Ornithologen, zwei Fahrer, eine Köchin und sie, auf der Suche nach dem persönlichen Glück. Dort hat das wenigstens noch gestimmt, aber hier?
Der Golf vor ihr bremste vorsichtig, sie bremste ebenfalls. Du meine Güte. Ich bin erst im ersten Viertel. Das kann ja noch Stunden dauern. Die Farbe an der Tunnelwand blätterte leicht ab, da wo ein Maler, bestimmt italienischer Gastarbeiter,
Gubrist 1/4
hingemalt hatte. Wann war das bloß gewesen, als die Schweiz aus Fremdarbeitern Gastarbeiter gemacht hatte? Eine frühe politische Korrektheit, die mehr verschleierte als klärte. Aude schaute müßig aus dem Fenster, man müsste die Farbe wohl bald erneuern. Und wer würde das diesmal tun? Wer waren die Italiener der Schweiz von heute? Die Deutschen? Diese ganze Deutschenhysterie, die die Presse seit einigen Jahren kontinuierlich nährte, ging ihr gehörig gegen den Strich. Am schlimmsten war’s während einer EM oder WM. Damals, 2006, als die Welt zu Gast bei Freunden war, wie der deutsche WM-Slogan proklamierte, konnte sich die Boulevardpresse kaum einkriegen. Die Angst vor dem großen Kanton im Norden. Herrje.
Dann ging es wieder ein paar Meter weiter.
Sie überlegte, ob sie alle Unterlagen dabeihatte und welche Fragen sie beim Treffen stellen wollte. Es war ja kein Kongress, mehr ein freundschaftliches Wiedersehen unterBerufskollegen. Das bedeutete jede Menge Smalltalk, bevor man endlich zur Sache kommen konnte. Herrje, herrje.
Aber sie würde diese Reise nach Ungarn machen. Und sie wollte nicht unvorbereitet fahren. Also. Dranbleiben. Mit Umkehren wäre es jetzt ohnehin nichts mehr.
Sie war noch nicht bis in die Hälfte des Tunnels vorgestoßen, da schaltete sie das Radio ein. Ein bisschen Abwechslung, Moderatorenmantsch,
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