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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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das wütende Aufbrausen des Wranglers, der sich von einem Škoda nicht den Rang streitig machen lassen wollte. Als sie ihn hinter sich hervordrücken spürte, machte sie Platz, und in einem nicht ganz ungefährlichen Manöver kam sie wieder hinter dem Wrangler und vor dem Golf zu fahren. Der Fahrer zeigte ihr den Vogel durch den Rückspiegel und ließ den Motor aufheulen. Und sie? Über alle Maßen erstaunt und etwas verwirrt, driftete sie ab in die rhythmisierenden Herzschläge der Musik, die wie eine sanfte Massage den Nacken hinab über Schultern und in die Arme ausliefen. Weich wie Wasser, warm wie eine Umarmung.
    Das kann doch nicht sein? Was ist das nur für ein Sender?
    Suchend blickte sie in den Rückspiegel. Hinter ihr fuhr ein Mann in seinem blauen VW Golf, und sein Kopf nickte im Gleichtakt mit der Musik, die aus Audes Autoboxen perlte. Seine Finger lagen entspannt auf dem Lenkrad, vereinzelte tanzten.
    Konnte es sein, dass er denselben Sender hörte?
    Als das Stück wechselte und bald ein neues auf die Erde herabschwebte und sich im Fonds des Škodas ausbreitete wie ein Tuch aus Seide und Damast, glaubte sie an den Gesichtszügen des Hinterfahrers zu erkennen, dass er es auch hörte. Aude wunderte sich. Sie war nicht dafür geschaffen, ihre Zeit an Mystizismus oder andere unerklärliche Phänomene zu verschwenden. Sie verstand sich als Wissenschafterin, als ordnungsliebender Mensch. Als eine, die dazu beitrug, die Welt zu enträtseln, sie zu strukturieren und zu systematisieren. Ein Radiosender auf einer Frequenz, auf der sonst nie etwas lief, und dazu noch einer, der offenbar nur in zwei Wagen, ihrem und dem blauen Golf, empfangen werden konnte, passte ganz einfach nicht in ihr Konzept.
    Zürcher Nummernschild. Sie schielte immer wieder in den Rückspiegel, rückte ihn leicht zurecht. Der Wagen schien, so weit sie das im schmalen Rechteck ausmachen konnte, als das, was man heutzutage normal bezeichnen würde. Keine überlange Antenne, nichts Tiefergelegtes und auch kein Fuchsschwanz, der wie blöd im Wind flatterte. Alles vollkommen unauffällig.
    Und er, der Fahrer? Sie schaute genauer. Zwischen dreißig und vierzig, vielleicht auch schon leicht darüber, Normalohaarschnitt, Normalo-T-Shirt, vielleicht hellblau.
    Als er nach kurzem Blinkzeichen nach links ausscherte und sie überholte, verfolgte sie ihn mit ihrem Blick. Er bemerkte es nicht, sondern schien vertieft in die Percussions, die seine Fingermuskulatur in Anspruch nahmen.
    Aude checkte die Fahrer der anderen Wagen, keiner schien mitzuhören, kein Kopf wippte. Diese Musik war etwas, das nur sie und den Golffahrer verband. Eine ungewöhnliche und unerklärliche Notenfolge auf einer Schweizer Autobahn, die sie umtändelte, einsponn und mitriss. Der sie nicht entkommen konnte und der sie nicht entkommen wollte.
    Als der Golf ein weiteres Auto und dann noch eines überholte, signalisierte das gemeine Rauschen die Verlorenheit des Senders im Meer der Frequenzen.
    Und Aude hatte etwas begriffen. Wenn sie auch das Geheimnis noch nicht ganz entschlüsseln konnte, so war ihr nun klar, dass sie diese Musik nur empfangen konnte, wenn sie möglichst dicht beim VW Golf fuhr. Sie wartete einen günstigen Moment ab, wechselte selber wieder auf die Überholspur und platzierte sich selbstbewusst hinter dem Golf. Eine knappe Wagenlänge Abstand, da war sie nun, und da wollte sie auch bleiben. Für die Dauer der Strecke zumindest, die sein Weg dem ihren entsprach. Was danach käme, würde man sehen.
    Die eigenwilligen Kompositionen und Arrangements verbanden ihren Wagen mit dem ihres Vordermannes.
    Wie konnte das sein? Wie geht das bloß?
    Sie fuhren jetzt durch den Kanton Schwyz. Das hohe Verkehrsaufkommen hatte sich nach der Pfäffikoner Ausfahrt gelichtet, aber Aude blieb, wo sie war: dicht auf hinter dem Golf. Träumte. Sinnierte. Summte mit. Die musikalischen Motive fanden samt und sonders Eingang in ihr Herz. Ähnlich wie Vögel, deren Zirpen, Piepen, Tirilieren sie so gerne lauschte. Aber das waren keine Vögel, und es waren keine ersichtlichen Gründe da, nur der Zwang, weiter zu lauschen und zu diesem Zweck möglichst nah am Golf zu bleiben.
    Aude fühlte sich ein bisschen aufgewühlt, ein bisschentraurig. Ein bisschen verwirrt, und zum ersten Mal seit Jahren genoss sie einen solchen undefinierbaren Zustand. Es war, als wären durch diese geheimnisvollen Choräle in ihrem Innern Türen aufgestoßen worden – und sie auf Entdeckungstour in sich selbst

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