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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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unterwegs.
    Ein Tunnel, Quarten, dann unter den Trossen der Flumserbergbahnen hindurch, dann noch ein Tunnel, Fratten, ein Licht, ein gelbes. Ein Licht, ein gelbes, ein Licht … was war das? Er blinkte. Kein Zweifel, der Golf wollte die nächste Ausfahrt nehmen. Ohne zu überlegen, setzte auch Aude den Blinker. Gottseidank, Gottseidank, nur eine Autobahnraststätte – Bergsboden Walensee.
    Aude parkte links von ihm, ließ zwei Felder frei. Wartete ab, was weiter geschehen würde. Das Radio, wenn man es denn so nennen konnte, diese geheimnisvolle Frequenz 87,9, spielte noch immer. Exotisches Wirrwarr nun, tröpfelnde Töne wie Regen. Dann ein Beat, ein Harmonium, eine Stimme, eine Arie, ein so reiner Klang, dass es Aude kalt den Rücken hinablief … und dann war es aus.
    Die Türe des Golf schwang auf, und heraus stieg ein großer, schlanker Mann in dunkelblauen Jeans und einem T-Shirt, das ihm über die Oberarme flatterte. Oberarme rund und hellbraun wie Schweizer Butterweggen. Der Wind ging stark hier, aber die Sonne war warm, und der Mann stand für einen Moment reglos, schaute in Richtung Autobahn. Dann schloss er seinen Wagen ab, tatsächlich noch mit einem echten Schlüssel, altmodisch, kostengünstig, unmodern, und schlenderte zu einem Bänkchen, neben dem er seine Glieder reckte und von wo er zu den Bergen hinüberblickte. Unter ihm floss der Verkehr auf der A3. Der Walensee lag ausgebreitet wie eine Klangschale. Aude beobachtete ihn von ihrem Sitz aus im Rückspiegel. Der Mann schritt nun gezielt in Richtung Restaurant. Er trug graue Stoffturnschuhe. Vermutlich ausgefranst. Er ginghinein. Aude verließ ihren Wagen und trabte ihm lautlos hinterher.
    Sie war noch nie hier gewesen, an dieser Raststätte war sie immer nur vorbeigerast. Der Blick, der sie im Innern erwartete, verschlug ihr die Sprache. Die Sieben Churfirsten, einer schnittiger als der andere, glänzten akkurat aufgereiht und erhoben ihre stolzen Häupter über dem Walensee. Wie oft war sie selber, als junge Frau und angehende Ornithologin, in diesen Bergen herumgestakst, auf der Suche nach Steinadler, Schneehuhn oder Mauerläufer. Auf der Nordseite hatte sie an der Waldgrenze die Birkhühner bei der Balz beobachtet und die Demonstrationen von Paarungsbereitschaft subalpiner Vogelarten inventarisiert. Und einmal, südseits, glaubte sie sogar, einen ganz seltenen Gast gesehen zu haben, einen jungen Bartgeier, der auf einem Erkundungsflug hier herauf geflogen war und wuchtig Kreise zog. Dabei blieben die einzelnen Berge immer nur Nebensache. So wie hier hatte sie sie noch nie gesehen. Hier thronten sie im imposanten Panorama über dem See, Selun, Frümsel, Brisi, Zuestoll, Schibestoll und Hinterrugg und Chäserrugg. Ein Blick, der ihr den Atem raubte.
    »Wo Sie wollen«, richtete eine freundliche Servierkraft das Wort an sie. Offenbar hatte Aude ratlos gewirkt, wie sie so dagestanden hatte, ohne einen Schritt zu tun. Sie gab sich einen Ruck, nickte und prüfte dann rechts und links, wo der Golffahrer war. Links also hatte er sich hingesetzt, ganz oben, direkt am großen Fenster.
    Geräuschlos, Ornithologin auf der Pirsch, tat auch sie einige Schritte nach links und setzte sich dann ebenfalls an einen freien Tisch am Fenster, von dem aus sie ihn gut im Blickfeld hatte. Sie steckte die Nase in die Menükarte und schielte darüber hinweg. Diese sieben herrlichen Berge neben ihr, den Mann in Blau nur wenige Tische vor ihr, bestellte sie ein Wasser und wartete ab und war nun tatsächlich: ratlos.
    Wenn sie in der freien Natur eine Kreatur belauerte, so wusste sie immer ganz genau, was sie als Nächstes tun würde oder nicht. Zumeist beobachtete sie einfach und verfasste ihre Notizen. Oder sie sprach, wenn die Distanz zum Objekt groß genug war, kurze Worte in ihr Diktiergerät. Das Beobachten galt der Wissensvermehrung, zuweilen der Bestätigung, der Erforschung eines bestimmten Verhaltens vielleicht. Der Überprüfung einer These. Aber hier? Was für eine These hatte sie denn schon? Wie hätte sie diese in Worte packen können? Und was für ein Verhalten wollte sie verorten, strukturieren, systematisieren? Das war ja nur ein Mann in einer Autobahnraststätte, der – schrieb? Sie sah, wie er vornübergebeugt Zeichen auf eine Papierserviette kritzelte. Seine Haltung wirkte konzentriert. Konzentrierte Entspannung, vielleicht eine kleine momentane Versunkenheit? Dann sah sie, wie er ein Diktiergerät auspackte, ganz so, wie sie eines benutzte, vielleicht

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