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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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genau das Gleiche, einen Olympus Digital Voice Recorder DS-30, und – tatsächlich: hineinsummte!
    Nichts hätte sie mehr in Erstaunen versetzen können, als ein Normalomann in einer Normaloautobahnraststätte, der in ein Diktaphon summte. Außer vielleicht die Tatsache, dass sie ihn dabei beobachtete und belauschte.
    Sie war ja völlig meschugge. Setzte ihr Treffen in Vaduz aufs Spiel, indem sie hier hockte, den Kopf zwischen die Schultern geduckt, und lauerte. Was war nur in sie gefahren?
    Aber Aude konnte es eben gar nicht gebrauchen, wenn sich ihr ein Rätsel auftat, das sie nicht lösen konnte. Und erst recht nicht, wenn dieses Rätsel ein akustisches war.
    Kein Zweifel, dieser Mann, der dort saß, schrieb und summte.
    Die Finger seiner rechten Hand klopften einen Takt, Linkshänder also, und als ihm die Serviertochter ein Birchermüesli an den Tisch brachte und den Teller auf seinPapierset stellen wollte, zog er dieses lächelnd zurück; es war sein Schreibblatt. Auch als die Serviertochter lachend gegangen war, bewegte sich sein Kopf noch immer zu unsichtbaren Musikwellen, solchen, die nur er zu hören vermochte, und seine Hand schob über das Papier, und er schrieb unbeirrt, ohne hinzusehen, vermutlich Noten. Ein Verrückter. Oder: ein Musiker.
    Zu dumm, dass ein Gang zur Toilette nicht an seinem Tisch vorbeiführen würde, das wäre zumindest eine Gelegenheit gewesen. So müsste sie schon anders aktiv werden. Nur wie? Man konnte ja nicht einfach zu ihm hingehen und hallo sagen? Also sie, Aude, konnte das nicht. Ganz ausgeschlossen. Ihr Blick suchte hektisch nach einem Grund, sich näher an ihn heranzubegeben. Irgendein Ausstellungsstück, ein Bild vielleicht, das man betrachten könnte! Wieso musste ausgerechnet diese Gaststätte frei von Wildtrophäen und sonstigem musealen Tinnef sein? Kein einziges Exponat, das den Weg zu seinem Tisch gerechtfertigt hätte. Nichts. In Aude kam eine seltsame, eine heftige Verzweiflung auf. Hätte sie sie katalogisieren müssen, sie hätte ihr den Begriff Menschenverzweiflung gegeben. An Menschen verzweifeln, das kannte sie, und insbesondere an ihrer eigenen Unzulänglichkeit, der Unfähigkeit, mit Menschen umzugehen. Sie selbst zu sein. Mutig zu sein und klar. Unter Menschen entspannt.
    Wer war sie denn? Unperfekte Mutter, die ihr Kind gleich einem Kuckucksei der Schwester überantwortet hatte? Ornithologin, die sich mit einer Teilzeitstelle beim Schweizer Tierschutz mehr gelangweilt als gefordert über Wasser hielt? Einzelgängerische Trulla, die die Hochempfindsamkeit die Wände hoch, bald in die totale Vereinsamung trieb?
    Opfer einer Midlife-Crisis? Dumme Gans?
    Sie spürte die Sporen zu etwas, das bald schon eine aufkeimende Panik sein konnte, in ihrem Körper kitzeln, alssie sah, wie der Mann bezahlte. Schnell warf auch sie fünf Franken auf den Tisch und stand auf, ging auf ihn zu und hatte, noch bevor sie sich’s versah: »Wegen der Musik – ich muss jetzt wissen, was das ist«, gesagt.
    Hatte sie es also doch getan. War die zwei oder drei Schritte über den Boden geflogen und hatte ihr Gefieder vor ihm aufgeplustert und mit aufgeregt gespreizten Federn und spitzem Schnabel die Frage gestellt. Als Aussagesatz, Befehl.
    »Das? Das ist Toto mit
Hold the Line

    Aude strengte sich an. Etwas Unerwartetes in seiner Stimme irritierte sie und nahm ihre Aufmerksamkeit gefangen. Sie sagte noch einmal: »Die Musik …?«
    Der Mann hob den Finger und zeigte in die Luft: »Toto.
Hold the line
. Die vielkopierten Triolen.«
    »Triolen?«
    »Eine Gruppe aus drei Noten.«
    Sie starrte ohne Scham. Sie blickte nicht durch. Was nur mache ich hier eigentlich? In ihrem Blut schossen die Sporen auf und ab, infizierten ihren Kreislauf und drangen durch ihre Haut. Sollte sie nicht längst wieder unterwegs sein auf der A3 in Richtung Vaduz? Ihr brach der reine Angstschweiß aus.
    »Jetzt ist es zu Ende. Moment. Das hier ist Irene Cara, mit dem Soundtrack zu
Flashdance

    »Flashdance« – Aude war fassungslos.
    »Ist halt schon älter. Sie interessieren sich für Musik der Achtziger?«
    Erst jetzt realisierte Aude, dass der Mann die Radiosongs betitelte, die im Hintergrund der Raststätte unterschwellig eine zeitlose Ambiance verliehen. Er betitelte sie mit Akzent, Süddeutsch vielleicht, ein weiches Zungenbett, nichts Kantiges. Sie stammelte: »Nein. Ich bin Ornithologin.«
    »Aha«, nun stutzte er. Sein Blick ging angestrengt in ihreRichtung, Aude spürte, dass er überlegte, ob

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