Die Ruhelosen
die Musik, ja.«
Zum dritten Male: Stille. Sie gewöhnte sich schon fast daran. Hellbraunes Haar, vielleicht ein bisschen zu lange Fransen. Nur leichte Wellen, wie ein ruhiger See am Abend, auf dessen Spiegeloberfläche sich Herbstlaub sonnte. Gelassen. In Entspannung ausgebreitet. Oder einfach frei. Aude dachte, ich beneide ihn um seine Gelassenheit. Aude sagte nichts. Seine Augen sagten Freundliches. Sein Mund: »Ich muss dann wohl. Wenn du willst, hörst du einfach noch so lange 87,9, bis sich entweder ein Sender einmischt oder sich unsere Wege trennen.«
»Werd ich machen.«
Sie zahlten, jeder für sich. Aude wusste nicht, wie man dasmachte, ob sie für ihn hätte mitbezahlen sollen. Immerhin hörte sie sein Radio. Er sagte nichts, er schien ganz See am Abend. Dann schlenderten sie aber doch so zum Parkplatz, als hingen Gedanken zwischen ihnen in der Luft, die darauf warteten, vom Himmel geholt zu werden und sich in Worten zu materialisieren. Ihre Körper wahrten einen Abstand, der weit genug war, keine Berührung zu riskieren. Ihre Schritte klangen stolpernd, aus dem Takt. Er war der Erste, der wieder sprach: »Also – Aude, ja? –, also Aude, wenn du wieder mal Lust auf Jingles verspüren solltest, komm einfach mal im Studio vorbei. Du findest uns in Zürich, Jingle-Tingle. Frag nach Tom. Wir sind alles ganz Nette.«
Aude wunderte sich, weshalb er das angefügt hatte. Sie ärgerte sich, und etwas in ihr bäumte sich gegen diese Menschenverzweiflung auf, sie sagte: »Na ja, in nächster Zeit kann ich halt nicht, da fahre ich wie gesagt nach Ungarn.«
»Okay, gute Reise dann und viele gute Ergebnisse – das kann man doch wünschen, oder?«
»Kann man. Danke.«
Zum vierten Mal dröhnte Stille in Audes Ohren wie ein Tremolo, Wellen, als ob sie ihr ganz viel zu sagen hätte. Sie zog den Kopf tiefer ein, nickte einmal schräg zur Seite, wie idiotisch!, und suchte Zuflucht in ihrem Wagen. Ihrem Škoda. Druckausgleichskammer. Verbindungselement und Absperrzone. Einmal tief Luft holen. Zweimal, ganz tief atmen. Dann noch einmal durch die Scheibe lächeln. Tom fuhr los. Sie startete den Wagen und folgte ihm. Für die nächsten 20 Kilometer konnte Aude Jingle für Jingle mithören. Tom fuhr etwas langsamer als vorhin, 110 oder 100, oder schien das nur so? Aude horchte und betrachtete die Landschaft. Wiesentäler und Bergschroffen, auf jedem Hügelchen ein Haus. Eine Bilderbuchschweiz. Die Welt schien weit und doch erreichbar. Ganze Sonnenfelder taten sich auf, und als rechts entlang der Autobahn ein Zug auf gleicherHöhe fuhr mit all den kleinen hockenden Miniaturmännchen und -weibchen, diesen ganzen Menschenwesen darin, verflogen mit einem letzten Seufzer Audes Angst und ihre Bedenken, gerade eben etwas Törichtes getan zu haben.
Wie vermutet, mischte sich beim Autobahnkreuz Sarganserland auf der A13 ein anderer Sender ein, ein echter, und Aude hörte nur noch ab und zu die Klänge, die sie für die seinen hielt.
Eine kleine Weile funktionierte das Privatradio wieder, dann verlor es sich in Rauschen. Aude ließ es rauschen. Sie fuhr hinter dem Golf den Damm entlang, parallel zum Rhein.
Als die Ausfahrt Sevelen/Vaduz kam, hupte Tom kurz auf und winkte zum Fenster hinaus. Sein Wagen bog links ab, und Aude steuerte ihren Škoda auf die Rheinbrücke über den Fluss, Grenzpunkt und Schengener Außengrenze, Ende der Schweiz und Eintritt ins Fürstentum Liechtenstein.
ungarische Rhapsodie
Sopron, 2010
Endlich wieder unterwegs. Endlich einem neuen Ziel entgegen. In Wien-Schwechat einen Kleinwagen gemietet und losgefahren in Richtung Ungarn. Jetzt suchte Aude im Autoradio ihre persönliche Annäherung an die neue Sprache. Sie würde drei Wochen bleiben können. Alles war minutiös geplant. In Sopron würde sie sich mit einem Vogelkundler treffen, der ihr aus der Vogelvergangenheit Ungarns berichten würde und Bilder aus den Anfangsjahren der Fotografie zeigen wollte, rare Kostbarkeiten mit Großtrappen, Löfflern, Graugänsen und Haubentauchern. Und Störchen, Störchen, hatte er gemailt, Silberreihern auch und einem Zwergtauchergelege im Schilf versteckt.
Überhaupt wäre es wie ein kleines, wohl trauriges, aber doch auch beeindruckendes Wunder, diesen Zeitsprung zu unternehmen. Die Schrumpfung des eurasischen Steppengürtels mitzuerleben. Von den östlichen Zipfeln der Mongolei bis in die Puszta hatte der sich einst erstreckt, und selbst in der Schweiz muss es vor ein- oder zweihundert Jahren noch Großtrappen
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