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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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jedes Jahr, das vergangen war, ohne Kontakt zur Familie der Frau, knüppelte sein Gewissen härter. Aber auch ihn hatte die Geburt des Kindes beruhigt, befriedet in seinem Dasein als einfacher Schuster am Schalter eines Schuhsohlen- und Schlüsselservicebetriebs in einem vorstädtischen Einkaufszentrum, wo er Dienst tat von morgens um sieben bis abends um acht.
    Aurelio war Şirîn verschiedene Male über den Weg gelaufen. »Im Ausgang«, wie er das nannte, wenn er nachts in Zürich unterwegs war, auf Partys, in Clubs und Bars. Alkohol war dabei nie sein Thema, sein Interesse galt ganz dem Austausch, Lachen, Erzählen, Reden, dem Geselligsein. Was für seine Mutter schwarz war, war für ihn weiß, wo sie verstummte, tat er auf. Aurelio hatte Şirîn nicht bemerkt, nicht wirklich wahrgenommen. Sie aber hatte ihre Augen auf diesen hübschen, schwarzhaarigen jungen Mann geworfen und ihren Blick nicht mehr von ihm gelassen. Als er eines Abends zu Hause vor seinem Computer saß und im MSN chattete, einem Kanal, den er stets offen hielt für alle, die mit ihm kommunizieren wollten, klopfte plötzlich eine Şirîn an. »Bist du das«, hatte sie ihn gefragt, »der gestern im Kaufleuten mit drei anderen Jungs über die Minarettinitiative gesprochen hat?«
    »Bin ich, ja.«
    »Ich mag dein Bild.«
    Aurelio hatte als MSN-Kontaktbild ein Kinderfoto von sich hochgeladen, Klein Aurin mit einem karierten Halstuch um den Kopf gezwirbelt, wie er lachend aus einem Seifenkistenauto auf den Hosenboden fällt.
    So waren die beiden auf Şirîns Anstoß hin miteinander ins Gespräch gelangt, und ehe er sich’s versah, suchte er ihren Duft, den Duft des frischen Windes, in jedem Raum.
    »Sie hat übrigens grad ihr Einbürgerungsverfahren am Laufen.«
    »Wo denn?«
    »Schübelbach. Kanton Schwyz.«
    »Bewahre! Dort stimmen sie doch in der Gemeinde ab!«
    »Ja. Sie muss sich so richtig bewerben. Nachdem sie nun die Eidgenössische Einbürgerungsbewilligung hat, musste sie ein Gesuch an den Gemeinderat stellen. Danach bat man sie, ein Foto zu schicken, das als Anhang in die Rechnungs- oder Budgetbroschüre gedruckt werden soll, um sie dem Bürger vorzustellen. Die Gemeinde schrieb ihr dazu sogar extra, sie solle bitte lächeln auf dem Bild. Ein Wahnsinn.«
    Aurelio hob den Teller und leckte ihn leer.
    »Das ist für mich Heimat.«
    »Was?«
    »Wie du mir die Mulde in den Kartoffelstampf drückst für einen See aus Sauce, und wir beide am Reden. So erinnere ich mich an meine Kindheit. Auch wenn ich weiß, dass wir nicht allzu oft zusammen waren.«
    Aurelio sah, wie seine Mutter errötete.
    »Irgendwie habe ich immer gewusst, dass das, was du mir gibst, deine reinste Liebe ist.«
    Seit Aurelio die Ausbildung in einer Kinderkrippe erfolgreich abgeschlossen hatte und als Gruppenleiter arbeitete, dachte er oft über das Kindsein und die eigene Kindheit nach. Und wie immer sprach er alle Dinge freimütig an.
    »Ich habe wirklich nur gute Erinnerungen.«
    »Oh«, Aude schaute ihrem Sohn nun direkt in die Augen, »und warum sagst du mir das jetzt?«
    »Nur so. Ich finde, wir müssen es für unsere Kinder so gut wie möglich machen.«

Geflecht aus lauter Stille
    Zürich, 2010
    »Oh – die Nahauffahrerin von der Autobahn, nicht wahr?«
    »Hallo, Tom, ja. – Aude – äh, ich war tatsächlich grad in der Gegend …«
    »Ich weiß, ich musste nur kurz überlegen. Komm rein, leg ab. Was schleppst du da denn alles mit?«
    »Alte Bänder mit Kompositionen meines Großvaters Abel Ditrich.«
    »Schnürsenkel, auweia!«
    »Ich habe sie auf dem Dachboden gefunden, bei meiner Schwester. Ich dachte, vielleicht kann man sie ja anhören in eurem Studio?«
    »Da müsste ich schauen, wo wir den alten Revox haben und ob der noch geht, soviel ich weiß, ist der ziemlich unzuverlässig. Aber tritt erst einmal ein, willst du einen Espresso, Kaffee?«
    »Ein Wasser vielleicht?«
    »Und dann musst du mir erzählen! Du warst doch in Ungarn, nicht wahr, oder war es Rumänien?«
    »Ungarn. Und an vielen Orten. Kroatien, Italien, ich bin viel gereist seither und habe …«
    »Vögel beobachtet, das war es doch?«
    »Nicht direkt. Das ist eine lange Geschichte.«
    Toms Firma, Jingle-Tingle, befand sich in einer alten Fabrik aus hellen Backsteinen im Kreis 8. Das Gebäude stand unter Heimatschutz, die Decken waren hoch, die Fenster großzügig geschwungen, einzelne Wände waren offenbar in die geräumige Halle eingesetzt worden, um Arbeitskojenzu schaffen. In einer der Kojen,

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