Die Ruhelosen
die zu einem großen Flügelfenster führte, blitzte eine weiße Ledersitzecke. Hierhin begleitete Tom Aude. Sie schaute sich um und nahm den weiten Raum in sich auf. Sie fand alles ein bisschen stylish, überkandidelt, knapp noch erträglich. Die Geräusche hingegen waren eine angenehme Kulisse, Wasserfälle von Klängen, gewebte Tonteppiche, hier und da eine Stimme oder zwei, Menschen an der Arbeit, am Mischpult, inmitten des Kundengesprächs oder bei einer Probe.
Die Getränke brachte Tom auf einem Tablett, das aus einem alten Filmrollenbehältnis gebastelt war. Aude wusste nicht, was sie davon halten sollte, und sagte besser nichts. »Sag besser nichts. Aber ein paar gefällige Diener müssen wir unserer Kundschaft gegenüber schon machen.«
»Autospots, ich erinnere mich.«
»Damals auf der Autobahn?«
»Ausgerechnet.«
»Man kann nicht immer das Glück haben, Tibet-Kampagnen zu vertonen. Auch Musik ist ein Geschäft. Das hat dein Großvater sicher auch gewusst. Was hat er denn gespielt?«
»Violine«, Aude nahm einen kleinen kurzen Schluck aus dem hochstieligen Glas, »und Saxophon, Klavier, Gitarre, Hackbrett und später sogar Synthesizer. Er war Musiker durch und durch. Wunderkind seinerzeit. Es gibt noch Zeitungsartikel. Er hat sein ganzes Leben lang gespielt und in seinem Studio stundenlang komponiert und Bänder aufgenommen.«
»Die da?«
»Ja. Zum Schluss hat er dann im Auftrag einer amerikanischen Firma Musik für Fahrstühle und zur Beschallung von Kaufhäusern hergestellt. Ich glaube, anders kann man das nicht sagen.«
»Muzak. Gebrauchsmusik. Er also auch.«
»Eigentlich war er Zigeunerprímás. Ich glaube, auf diesen Bändern sind solche Sachen drauf. Auch ältere Stücke. Kleine Kompositionen und große Orchestermusik. Das vor allem. Damit ist er berühmt geworden.«
Aude redete und redete, fügte mutig Satz an Satz und versuchte, sich selber dabei nicht allzu streng zuzuhören.
»Wie hieß dein Großvater noch mal?«
»Abel Ditrich. Nein: Abel Israël, aber sein Künstlername war Ditrich.«
»Irgendwas klingt bei mir weit entfernt, wenn ich diesen Namen höre. Mal sehen, vielleicht komme ich noch drauf.«
Aude wartete, ob er noch etwas mehr dazu sagen würde. Seine Stimme klang sanft und fragend und unergründet. Sie erschrak, als er sie direkt ansprach:
»Und du? Was machst du so? Suchst dir grad neue Vögel aus, die du beobachten kannst?«
»Eher Menschen.«
»Bist unter die Ethnologen gegangen?«
Wieder das warme Timbre, er betonte die Vokale so weich, sie verschlierten dabei zu gänzlich neuen Farben, und er zog das Satzende sanft in die Höhe wie ein helles Fragezeichen. Auch wenn er keine Fragen stellte, das war ihr schon bei ihrem ersten Treffen aufgefallen. Sie gab sich einen Schubs.
»Die Genealogen, vielleicht.«
Tom hob die Augenbrauen, braungesprenkeltes Bussardgefieder.
»Magst du hören?«
Und Aude gestaltete ungewohnte Wortkompositionen und berichtete Tom stückchenweise von ihren Nachforschungen, von den Menschen, die sie getroffen und interviewt hatte, von ihrem Ordnungssystem, das sie sich eigens für die Katalogisierung geschaffen hatte, von den vielen schlaflosen Nächten und all den Dingen, die sich für sie plötzlich zusammenfügten, von den Fragen, die bei ihrnoch offen waren, und darüber, wie unerwartet spannend sie mit einem Male, vielleicht zum ersten Mal in ihrem Leben, Menschen fand.
Dann holte sie Luft und schaute zum Fenster hinaus. Die Stille, die sie nun hörte, erinnerte sie nur schemenhaft an eine andere, alte Stille, und sie versuchte sich an einem ersten zaghaften Lächeln für Tom.
»Ich wünschte, ich hätte die Zeit und könnte solche Reisen machen …, oh, entschuldige, so war das nicht gemeint. Ich habe im Moment nur …, sehr viel um die Ohren.«
»Woran komponierst du denn?«
»Zum einen haben wir einen tollen Auftrag für eine Filmmusik,
Die Wachsfigur
, und zum anderen sind da die kleinen Jobs, Autospots, Möbelspots, Butterspots, Glacéspots.«
»Wie viele seid ihr hier?«
»Mittlerweile sind wir zu sechst, Tontechniker und freie Künstler miteingerechnet, mit denen wir regelmäßig zusammenarbeiten.«
»Künstler. Mein Großvater wollte nie ein Künstler sein. Er hätte viel lieber Business gemacht.«
»Abel Ditrich. Jetzt hab ich’s: Beromünster, nicht wahr?«
»Das kennst du?«
»Auch Schwaben finden sich in der Schweizer Musikszene zurecht.« Er lachte mit offenen Lippen. Hübsch. Aude schaute ganz gerne noch
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