Die Ruhelosen
Weil eben alles zuerst durchs Herz muss, was gesagt werden will. Was ein Umweg ist.«
»Also, das war ja jetzt ein zügiger Vortrag …«, sagte Tom, und Aude fühlte sich von ihm missverstanden.
»Ich will nicht missverstanden werden, deshalb kann ich auch nicht so schnell Antwort geben. Wenn man mich etwas fragt. Ich denke für die meisten Menschen zu lange nach.«
»Worauf möchtest du denn antworten?«
»Hab ich vergessen. Aber jetzt weißt du das wenigstens.«
»Ja. Wollen wir nun das mit dem Band versuchen?«
In der Ferne einer anderen Zeit hob ein Mann seinen Geigenbogen an, wartete einen Herzschlag, zwei, drei und führte ihn dann Strich für Strich über die Saiten. Seine Trauer, Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit waren ebenso auf diesem braunen Band gefangen, wie die Befreiung, die jede Steigerung der Tonfolge, jede Synkope, jede einzelne Harmonie hervorbrachte. Eine Erlösung, die Zeit und Raum und alle anderen physikalischen Gesetze aushebelte, sich den Gehörnerven entlangschlängelte und den ganzen Menschen von innen heraus vibrieren machte.
Unwillkürlich füllten sich Audes Augen mit Tränen. Siesah vernebelt, wie Tom zum Sprechen anhob, es dann aber bleiben ließ und sie stattdessen einfach nur betrachtete, eine Hand auf den Revox gestützt, diesen Wunderapparat für einen Zeitreisenden. Aude gewann in diesem Moment neuen Raum für sich. Einen Raum für zwei, in dem sie sich grenzenlos fühlte, und vor allem dies: befreit.
Die Lebensbejahung in der Musik ihres Großvaters überwand sämtliche Schroffen ihrer Einsamkeit, Schluchten unerfüllten Verlangens, und schlug zauberhafte Brücken in Gärten voll nie dagewesener Schönheit und Perfektion. Sie schwebte.
Dann, viel zu plötzlich, machte das Gerät einen hässlichen Laut, und das Band verstummte.
Aude hätte sich nun gewünscht, dass dieser Tom in Geschäftigkeit ausbrechen würde, dass er rasch aufstehen und irgendein Ersatzteil suchen würde, dass er schwatzen, reden, sprechen, die Stille mit der Ordonnanz seiner Stimme ausfüllen würde, dass er irgendetwas tun würde, aber er saß nur da, diesen hellbraunen Blick auf sie gerichtet, und mit etwas in seinen Augen, das sie nicht erkennen konnte. Sie spürte, wie sich ihre Stirn kräuselte und ihre Lippen enger wurden. Noch immer blieb er still. Das kannte sie doch bereits, dieses Schweigen zwischen ihnen, das sie anscheinend mehr miteinander verband als jedes gesprochene Wort. Und obwohl sie in einem engen halbdunklen schallisolierten Kabäuschen waren, atmete in den Molekülen dieser Studiowelt noch immer der Klang eines Geigensolos, wie ein Ruf, der die Türe zu einer anderen Welt, einer weiten, endlosen und freien, für sie offen hielt.
Und hielt.
Und hielt.
Aude war es, als könnte sie im Dunkel der Zimmerecke jenen Spalt sehen, durch den ihr Abel seine Einladung auf einem Strahl gebündelten Lichts schickte.
Tom sagte: »Hör zu. Wir machen das so. Du kommst nach sieben zu mir nach Hause. Dort habe ich einen Revox, der funktioniert. Abgemacht?«
Aude wusste, dass es nur eines einzigen Wortes bedurfte, dreier Silben, die sie zwischen den Knorpelhügeln ihres Kehlkopfes hindurchpressen musste, also holte sie Luft und wisperte: »Abgemacht.«
Schwitzend und verschämt packte sie ihre Sachen zusammen. Dass er die Bänder behielt und später mit seinem Wagen mitnähme, wollte sie nicht. Sie versprach durch Nicken, sich seine Adresse zu merken und um sieben dort zu sein.
Dann war sie plötzlich draußen. Gleißendes Sonnenlicht. Spatzenschwatzen in den Büschen. Eine Amsel im Baum. Sie ging los.
Wo sie die Stunden bis abends um sieben verbrachte, wusste sie nachher nicht mehr zu sagen. Sie war wohl ziellos durch die Stadt gezogen, hatte auf der Katz den alten und dann in Riesbach den neuen botanischen Garten besucht, hatte irgendwo im Niederdorf in einer Alternativbeiz einen ungesüßten Chai getrunken und die Minuten gezählt. Aber vielleicht auch nicht. Vielleicht verwechselte sie das mit einem anderen Nachmittag, der in einem anderen Jahr zu einer anderen Zeit stattgefunden hatte. Sie konnte sich nicht daran erinnern. Sie erinnerte sich aber an ihre Gefühle, die Wärme, die sich in ihr breitgemacht hatte, das Wohlsein, den Frieden und die Ruhe, und an ihren Kopf, der mit geschickten Verstrickungstiraden dagegen anging.
Sie kam sich abwechselnd so vor, als befände sie sich auf dem Weg zum Schafott oder zu ihrer kurzfristigen Begnadigung. Und je länger sie in sich
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