Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
Vom Netzwerk:
einmal auf seine Schaufeln, die durch einen Spalt getrennt voneinander waren; das hatte sie berührt, diese kleine Offenbarung einer persönlichen Eigenheit.
    »Wollen wir mal schauen, wegen des Revox?«
    »Hast du denn Zeit dafür?«
    »Ich kann sie mir nehmen. Komm, das interessiert mich jetzt.«
    Aude folgte ihm durch die Räume, nickte dem einen oderanderen zu und versuchte, mit ihren Ornithologinnenschrittchen keine Geräusche zu verursachen.
    In einem halbdunklen Kabäuschen zog Tom einen wuchtigen, grünsilbrigen Apparat aus dem Metallregal hervor und hievte ihn auf einen Tisch. Drucktasten und Schieberegler, Schaltknöpfe und kleine zitternde Zeiger in Sichtfenstern, dazu ein schwarzes Zahlenrädchen – das alles sah für Aude sehr kryptisch aus.
    Tom hantierte mit sicheren Griffen. Er suchte passende Kabel aus einer runden Box, vielleicht ehemals eine Überseetransporttonne, und kramte aus einer überdimensionalen Pappschachtel eine leere Spule. Vorsichtig ließ sich Aude auf einen Lederpouf sinken. Es gab ein Pfff-Geräusch. Ein ähnlich unangenehmes Gefühl wie damals in der Hotellobby in Sopron, Knie zu hoch, eine Haltung, aus der sie nicht so schnell herauskommen könnte bei Gefahr. Sie spürte plötzlich wieder diese Menschenscheu, diese Furcht davor, allein mit einem Menschen zu sein, mit einem Mann. Einem, der in Jeans und Retrohemd vor ihr herumwerkelte und ihr freundliche Blicke zuwarf. Wie kann ein Mensch nur so freundlich sein? Und doch, sie wusste im Moment auch nicht mehr, ob sie seinetwegen oder wegen der Bänder vorbeigekommen war, aber sie wusste, dass sie das beschäftigte. Ein Amimour. Wieso dachte sie jetzt plötzlich an die Worte ihrer verstorbenen Omama? Warum war sie jetzt, an diesem Punkt ihres Lebens angelangt und dachte an Liebli und an Amimour? Ob das überhaupt gestimmt hatte, als sie gesagt hatte, sie sei nur grad in der Gegend gewesen? Was wusste sie eigentlich über sich selbst? Sie. In seiner Gegend. In seinem Revier. War das Brutverhalten? Werbung? Brunftgebahren? Sie?
    Hatte sie sich deshalb so herausgeputzt heute? Die Federn aufgeplustert? Patchouli hinter die Ohrläppchen getupft? Die schwarz gefärbte Denimhose angezogen, denschmalen braunen Seidenpulli mit seinem Wasserfallkragen, der ihr so elegant, viel zu elegant, über den schwarzen Body fiel? Waren das Tarn- oder Lockfarben, die sie da trug in ihrem bunten Halstuch? Botenstoffe, eindeutige Signale, die sie aussandte? Mit zweiundvierzig? Kurz vor den Wechseljahren?
    Ihr eigener Sohn würde sie ja auslachen, wenn er wüsste, wie kirre sie eine solche Situation machte. Wo war sie vorher eigentlich gewesen? War sie überhaupt irgendwo gewesen, oder war sie nicht viel eher auf direktem Wege von zu Hause hierhergekommen, zu dieser Adresse, seinem Studio? Wie war sie nur in diesen Film geraten, den er da vertonte?
    »So«, sagte er und holte sie damit ins Hier und Jetzt zurück, »dann zeig einmal her. Spielt es eine Rolle, welches ich zuerst nehme?«
    Aude hob die Schultern und ließ sie sacken. Die Wörter hatten sich im Netz ihrer Zweifel verhakelt, und eine Panikwelle stieg in ihr auf, dass sie sich zum Narren machen könnte, wenn sie nicht bald zu sprechen anfinge. Ach, wenn sie doch nur einfach unter all diesen Problemen durchtauchen könnte! Aber ihre Stimmbänder blieben unbewegt und stumm. Fiebrig dachte sie darüber nach, was und wie sie etwas sagen könnte, eine Konversation einfädeln, ein Gespräch weiterführen, in Kontakt bleiben, auch mit Worten. Aber gerade das war so schwer, gerade das machte ihr Angst, wie fischte man denn aus der Unzahl von Wörtern das jeweils richtige heraus?
    Ihre Hände wurden feucht, sie bewegte sie in Zeitlupe auf den eigenen Schenkeln auf und ab. Möge der Schweiß in den Stoff einsickern …, ach, könnte ich mich in Dunst auflösen …!
    Sie hatte schon eine ganze Weile auf ihren Lippen herumgebissen und Tom dabei zugeschaut, wie er die Spule einlegte,das Band einfädelte und auf der leeren Spule festdrehte. Dann war er noch einmal aufgestanden und hatte ein weiteres Kabel geholt, stand nun da vor ihr und wartete auf ein geheimes Zeichen.
    »Der menschliche Nervus Vagus ist der einzige Nerv, der nicht nur das entsprechende Organ mit dem Gehirn verbindet, sondern der auch noch Ausläufer bis ins Herz hinein hat.«
    »Aha?«
    »Er steuert den Kehlkopf, deshalb sag ich das.«
    »Ja?«
    »Und zudem führt er zum Herzen. Deshalb können nicht alle Menschen gleich schnell sprechen.

Weitere Kostenlose Bücher