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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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auch ich habe Ahnen, Aude. Vorfahren. Hatte einen Großvater und … einen Vater. Hör einfach einmal zu.«
    Er ließ sich in den Sessel plumpsen und begann: »Mein Großvater war so um 1920 herum von Urach in die Schweiz gekommen, das liegt im Schwäbischen. Er hatte nicht viel gelernt, aber was er konnte, war, hart arbeiten. Er hat sich wohl irgendwie durchgeschlagen als Gärtner und Handlanger, und als dann in den dreißiger Jahren in Zürich der Zoo seine Tore öffnete, fand er dort eine Anstellung als Wärter. 1932 beschäftigte der Zoo acht Wärter, die einfach alles machen mussten. Ich glaube, sie waren ebenso für den Grünbeschnitt zuständig wie für die Reinigung der Käfige und das, was heute Tierpfleger eben so tun. Mein Großvater muss damals sehr stolz gewesen sein. Der Zoo war ein Prestigeobjekt für Zürich, und Großvater trug mit großem Eifer seine Zoouniform mit dem festen Schuhwerk, der Arbeitshose und -jacke und einer dazu passenden Schirmmütze. Es existiert irgendwo ein Bild von ihm und seinen Kollegen, wie sie eine Netzpython auf den Armen tragen. Ich vermute es in den Unterlagen, den Kisten, die du im Flur gesehen hast; es müsste dort irgendwo sein. Also, meinGroßvater war als recht einfacher Mensch vorwiegend für die Käfige und Gehege der Fischotter zuständig. Das entspricht so viel wie der untersten Sprosse der Zooleiter, da die Fischotter zu den geruchsintensivsten Tieren gehören. Aber das weißt du ja bestimmt. Nun, mein Großvater hat oft davon erzählt, wie es ihn Mal für Mal rückwärts wieder aus dem Gehege geschlagen hatte, so streng war ihr Gestank. Auch davon muss irgendwo noch ein Bild zu finden sein, er bei den Ottern, ich hatte bislang einfach nicht die Zeit, danach zu suchen.
    Als man 1933 das Raubtierhaus erweiterte und der Zoodirektor beschloss, die 265 Säugetiere, die der Zoo damals besaß, um einen weiteren schwarzen Panther auf 266 aufzustocken, erkannte mein Großvater darin seine Chance. Er trat einen Schritt aus der Reihe und meldete sich als freiwilliger Helfer bei den Raubtieren. Er würde diese Aufgabe zusätzlich übernehmen, die Käfige reinigen und instand halten, und daneben auch weiterhin auf die Fischotter besorgen.«
    Tom hob die Augenbrauen und suchte in Audes Blick so etwas wie vorzeitiges Verständnis.
    »Nun gut. So war er also einer der Wärter geworden, die für Hege und Pflege der Zürcher Zootiere verantwortlich waren, als aus Hannover ein schwarzer Panther geliefert wurde. Ein Weibchen, das man wild gefangen hatte und das auf ungeklärten Wegen nach Europa gekommen war. Sie hatte in Hannover noch Junge gesäugt, das war alles, was mein Großvater über sie wusste. Er verliebte sich vom ersten Augenblick an in dieses Tier. Und er hat uns immer erzählt, dass er so viel Zeit wie möglich mit ihr verbringen wollte. Vielleicht kennst du das Gefühl ja auch, Tieren ganz nah sein zu wollen.«
    Aude verharrte in ihrem natürlichen Zustand, das heißt, sie schwieg.
    »Eines Abends übernachtete er im Zoo, obwohl das strengstens untersagt war. Er las dem scheuen Tier wissenschaftliche Texte über schwarze Panther vor, eine ganze Nacht lang. Er hatte wohl die Idee gehabt, es mit seiner Stimme vertraut zu machen und ihm dadurch die Eingewöhnung an die neue Lebenswelt zu erleichtern.«
    »Über das Gehör …«, staunte Aude.
    »Bei aller Liebe vergaß er wohl, den Käfig zu untersuchen. Irgendwie ist es dann so gewesen, dass da eine Bruchstelle oder eine Öffnung im Deckengitter war, klein genug, dass man sie übersehen sollte, aber groß genug, dass sich dieses Weibchen hindurchzwängen konnte. Es haute ab.«
    Tom drängte eine angriffslustige Struppige von sich weg und ließ zwei kleinere Katzen gewähren, als sie sich an sein Handgelenk krallten.
    »Als man den Verlust bemerkte, wurden natürlich zuerst die Pfleger zitiert. Ich glaube, man hat meinem Großvater ganz gehörig den Kopf gewaschen, er hat sich von dem Schrecken nie so ganz erholt. Er war sein Leben lang ein Angepasster gewesen, einer, der sich jedes Aufsehens schämte. Die Presse raste, gegen 800 Pressemeldungen im In- und Ausland verzeichnete dieser Ausbruch. Du musst dir die Zeiten damals vorstellen. Die Bevölkerung verlangte nach dem Abschuss des Tieres, nach einem schnellen Tod. Mein Großvater hat damals alle Presseberichte, deren er habhaft werden konnte, ausgeschnitten, aufgeklebt und in einem dieser zeittypischen graumelierten Bundesordner aufbewahrt. Nur wenige

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