Die Ruhelosen
erlangen, anfeuerten. Das schlechte Gewissen überkam ihn immer abends, wenn seine Eltern ihn zu Bett brachten und mit ihm und den Brüdern das Nachtgebet sprachen und er sturzmüde vom Tage seinen Geschwistern kopfvoran entgegenrollte, bis sie in trauter Brüderlichkeit einschlummerten. Dann fühlte er sich schaurig unentschieden zwischen seinem Kindsein,dem kindlichen Vertrauen und dem Drang, eigene Wege zu beschreiten. Er wollte nicht gescheiter sein als seine Eltern. Er wollte zu ihnen aufschauen. Aber wenn sein Vater nun einmal ein coniglio war, ein Angsthase, dem es an Beherztheit und Vorstellungskraft mangelte, und nur er, Serafino, den Ruf vernommen hatte? Wenn er der Prophet wäre, der die Familie zu neuen Ufern führen sollte? Alfonso hatte es getan, er war gegangen, wieso also nicht auch er?
Hals über Kopf
Kassa, 1859
Als František Schön zurück ins Schloss kam, eilte ihm eine Zofe der Gräfin mit fliegenden Zöpfen entgegen. Ihre Schürze flatterte wie ein zuckender Muskel vor einem Krampf. Es sei etwas ganz Schreckliches geschehen, er habe sich unverzüglich in den Gemächern der Gräfin Csöke einzufinden.
František überreichte ihr seinen runden Filzhut, ohne den er keinen Schritt unter freiem Himmel tat, und begab sich auf, wie er vermutete, seinen Büßergang. Unterwegs fielen ihm erneut die vielen Katzen auf, die überall herumtollten, an Samttroddeln kauten oder am edlen Rosenholz der Tischchen ihre Krallen wetzten. Ein Graus. Wo man hinblickte, ein Schwanz, eine Pfote, ein Ohr zu viel, und all die toten Mäuse, die sich unter den Teppichen häuften und platt gedrückt darauf warteten, von einem Bediensteten entdeckt und weggeschafft zu werden. Seit der Graf nicht mehr im Hause war, verkamen die Sitten, Verrohung allüberall. Und beim Adel war Verrohung etwas vom Abscheulichsten. Gerade hier, wo nach außen hin das Gesicht gewahrt werden musste. Aber damit wäre es ja nun ohnehin vorbei. Und er war schuld, er ganz allein. František war bereit, alles zu ertragen, was nun folgen würde. Man würde ihn schon nicht töten, exilieren ja, aber nicht töten. Teeren und federn …, in ein Fass stecken und den hohen Hügel hinab bis in den strudelnden Hornád rollen …
Gräfin Csöke stand ohne Perücke in ihrem Zimmer, halbfertig angekleidet und auch ohne Schuhe an den Füßen. Inall der Zeit hatte er noch nie bemerkt, wie lang ihre Zehennägel waren, fast so wie die Krallen ihrer Katzen.
»František, Lieber!«, säuselte sie. Eine Begrüßung, mit der er nun gar nicht gerechnet hatte.
»Gräfin«, er verbeugte sich etwas zu tief, so dass er seines leichten Haltungsschadens wegen beinahe das Gleichgewicht verlor und einen Fangschritt tun musste.
»Schau mich an, lieber František, Künstler, Virtuose deines Faches, schau mich an, und sag mir, was du siehst!« Was war das wieder für ein Spiel? Sollte er sich darauf einlassen? Wie weit konnte er gehen? Flüchtig ließ er seinen Blick über die Neunundsechzigjährige gleiten. Ihr Unterhemd war nur nachlässig zugeknöpft. Durch den leichten Gazestoff schimmerten dunkel – konnte das wirklich sein? – flächig ausgedehnte Brustwarzen. War diese Greisin jetzt vollkommen übergeschnappt?
»Sag mir, was du siehst!«, wiederholte sie in aller Seelenruhe. Draußen schrie ein Pfau. Der Wind zupfte am Vorhang. In der Luft lag ein herber Geruch nach Tannenholz, das die Gräfin zu jeder Jahreszeit in ihrem Hauptgemach glühen hatte. In ihrem hohen Alter und aufgrund des fehlenden Fettes, das ihr das Herz warm hätte polstern können, war dies nicht weiter verwunderlich. Zudem konnte sie als Gräfin tun und lassen, was sie wollte. Auch das Vermögen ihres Mannes verprassen, wenn es ihr beliebte. Proteste pochten durch Františeks Kopf, aber er blieb um Worte verlegen. Die Gräfin, die offenbar Spaß an ihrem kleinen Ratespiel bekommen hatte, verzog die Fadenstrichlippen zu einem grauenvollen Lächeln, so dass František all ihre wackeligen Zähne entgegenbleckten, dann singsangte sie: »Warte, ich helfe dir. Sag mir also, lieber František, was du nicht siehst! Was fehlt hier?«
Er schaute sich um. In der dunklen Nordecke des Raumes sah er den Schaukelstuhl aus Kirschbaumholz mit seinemzerfetzten Rohrgeflecht. Daneben die Reisetruhe aus Nuss, bei der die Einlegearbeit aus Eibenholz gefertigt war, lauter Tiere, die unter den vielen Kratzspuren kaum mehr zu erkennen waren. Vor dem Damenschreibtisch einen Stuhl mit ebenfalls angegriffenem
Weitere Kostenlose Bücher