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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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Länge auf der Bankfläche aufliegen, Kantensitzen oder gar Schaukeln verweichlicht den Geist; den Oberkörper nur gering nach vorne neigen und sich nicht an die Tischkante anlehnen; den Kopf gerade halten, das Kinn in gesunder Höhe mindestens eine Handbreit von der Brust entfernt, mindestens, Vitale!; alsdann die Schultern in gleichlaufender Richtung mit der Tischkante halten, keine höher als die andere; und schließlich soll der linke Vorderarm ganz und der rechte wenigstens mit seiner vorderen Hälfte auf der Tischplatte liegen.
    »Aber sehen Sie«, wagte Vitale einen Einspruch, »da haben wir ein Problem: Serafino benutzt für alle seine Arbeiten, bei denen es auf Genauigkeit und Ausdauer und Reinlichkeit, wie Sie sagen, ankommt, seine linke Hand. Eine Angewohnheit, die ich übrigens auch habe, sehen Sie, meine linke Muskulatur ist viel stärker ausgeprägt als die rechte –« Weiter kam er nicht, denn schon erhob sich die Stimme des Lehrers zu einem kurzen eifrigen Crescendo: »Nein, nein, nein, aber nein, Vitale! Die linke Hand ist eineunreine Hand! Ich bitte dich dringlich, diese schädliche Angewohnheit schnellstens zu unterlassen und so deinen Söhnen ein gutes Vorbild zu sein.«
    Vitale wusste zwar nicht, wie er das hätte bewerkstelligen sollen, nickte aber dennoch, was sonst hätte er tun können. Seine eigene Schulzeit war ihm noch zu gut in düsterer Erinnerung, Handtatzen waren die eindeutig mildere Variante, zumeist hagelte es für ihn Stock- oder Rutenschläge, oder er musste stundenlang auf einem schmalen Holzscheit knien, wenn er gedankenverloren den Stift in die falsche Hand genommen hatte. Überhaupt überkam Vitale immer dann ein Gefühl der Verlorenheit, wenn er an die Schule zurückdachte oder mit dem Lernverhalten seiner Söhne konfrontiert wurde. Und dabei hatte er nie wie einige kecke Schulkollegen der Unart gefrönt, das Geschriebene hinter dem Rücken des Lehrers von der Schiefertafel zu löschen oder, schlimmer noch: Fratzen auf den schwarzen Stein zu kritzeln. Sein Serafino war bestimmt ein braver Junge, seine Arbeitsgerätschaften hielt er tadellos beisammen in einem kleinen Holztornister, aber es war nicht von der Hand zu weisen, dass er eben doch an derselben Unzulänglichkeit krankte wie sein Vater. Allein, das machte ihm seinen Serafino noch liebenswerter, es war eine fugenlose Zuneigung, die er zu allen seinen Söhnen empfand.
    Das hätte er dem nun sanft lächelnden Maestro nicht sagen können, vermutlich war dieser sogar ausgesprochen zufrieden mit seiner Rede, hatte er sich doch wieder einmal in aller Länge mitteilen können. Und doch, er musste es ja wissen. Vitale war hin und her gerissen.
    Serafino kannte während der Jahre seiner Kindheit kein Gefühl von Misstrauen. Sein Weltgefüge war ein festes, geordnetes. Da war seine Mutter mit den ausgewaschenen Kopftüchern, da war sein Vater mit den magischen Händen, von denen er so vieles abschauen konnte. Da waren derZio und die Zia, Onkel und Tante, mit allerlei Vettern und Basen, die in Alzano Lombardo wohnten. Und schließlich seine vier kleinen Brüder, die ihn allesamt vergötterten. Einmal im Jahr gab es Lammpolpette, hin und wieder auf dem Rost gebratene Spatzen. Die Quelle hinter dem Haus lieferte kristallklares Wasser, das beim Baden immer so herrlich den Bauch kitzelte, und der einäugige Hahn verteidigte die spärlichen Eier der Hühner mehr als diese selbst. Was hätte ihn da je beunruhigen können? Und doch war seit dem belauschten elterlichen Gespräch über den Norden eine Sehnsucht in ihm erwacht, die ihn an den Entscheidungen der beiden zweifeln ließ. Er fühlte sich erhaben und unglücklich zugleich über die Erkenntnis, dass seine Eltern vielleicht ja doch ein bisschen zu wenig mutig waren. Zu wenig abenteuerlustig. Zu simpel. Und was wäre, wenn Zio Alfonso recht behielte und die Arbeit in Bergamo plötzlich knapp würde, weil die Preußen – Prussia, dieses Wort klang für ihn wie Gold und Silber zugleich – sie mit den besseren Maschinen einfach vom Spielbrett der Welt putzen würden?
    Was dann? Wenn seine Eltern schon nichts unternahmen, so müsste zuwenigst er vorausschauend sein. Er war Serafino der Erste, er war neun Jahre alt, und es war allmählich an der Zeit, Verantwortung zu übernehmen.
    Zusammen mit Serafino-Pferd schichtete er Pläne und Phantasien übereinander wie Scheite in einem Kamin, die sein Ungestüm, etwas zu erleben und in seiner Familie, ja, in ganz Bergamo, Wichtigkeit zu

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