Die Ruhelosen
Alžbeta ihr, der Gräfin, diesen wunderbaren Menschen entreißen? Wie kaltherzig konnte eine Tochter gegen die eigene Mutter sein? Wie ungemein rücksichtslos und kalt?
Viera schauderte.
Engel und Pferd
Bergamo, 1859
Serafino besaß seit seinem dritten Lebensjahr ein hölzernes Nachziehpferd, naturecht geschnitzt und farbig gefasst, an den Ohren und an der Schweifrübe schon etwas abgestoßen und am Brustgeschirr zerkratzt, aber dennoch: Serafino war Herr über einen Schatz. Dieses Spielzeug, das er ebenfalls Serafino nannte, war sein Ein und Alles. Echtes Pferdehaar hing ihm bis an den Fesselkopf hinab als Schweif und als Mähne. Dass die angestaubten schwarzen Zotteln nur schlecht zu den braunen Flecken auf dem weiß bemalten Körper passten, kam ihm nicht in den Sinn. Für ihn war Serafino-Pferd das schönste Schmuckstück, der größte Schatz überhaupt. Seine Hufe schwärzte er regelmäßig mit Kohlestückchen, und Schweif und Mähne wusch er einmal wöchentlich im Bach. Um das Pferd schön glänzend zu halten, schmierte er es mit Paraffinöl ein, wann immer er einiger Tropfen habhaft wurde.
Vitale, der seinerseits sehr geschickt und erfinderisch war, wenn es darum ging, aus alt neu zu machen, aus den noch so kleinsten Resten etwas Brauchbares herauszupressen, beobachtete mit Wohlwollen das Treiben seines Ältesten. Um das Nachziehpferd schneller werden zu lassen, hatte er aus getrockneten Kastanien und einem Stückchen Draht fünf Räder gefertigt, die das Brettchen mit dem Pferd nun antrieben und recht gut im Gleichgewicht hielten, wenn er an der vorgespannten Schnur zog.
Eines Abends brachte ihm der Vater etwas Farbe mit nach Hause und zeigte ihm, wie er weiße Punkte auf das Halftermalen konnte, um Silberbeschläge zu imitieren. Ganz verzückt von dieser neuen Möglichkeit, zeichnete der Junge noch etwas Schaum vors Maul des Gaules und zog das Weiß der Augäpfel nach. Zufrieden mit seinem Werk, galoppierte er mit dem Spielzeug einmal ums Haus herum, stellte es dann zurück in die Küchenlade der Mutter, wo Serafino-Pferd neben Mehl, Mais und Grieß seinen Futterplatz hatte und wo er auf seine nächsten Ausflüge warten musste.
Aber egal wie friedvoll, ruhig und selbstvergessen Serafino bei der Ausübung einer handwerklichen Tätigkeit auch sein mochte, so konnte er in der Schule nicht einen einzigen Gedanken an den andern reihen, geschweige denn sich vernünftig benehmen. Ordnung und Sauberkeit, zwei der Attribute, die sich die moderne Schule dieser Tage auf die Fahne geschrieben hatte, brachte er zwar anstrengungslos auf, aber beim Gehorsam und beim Fleiß haperte es beträchtlich. Mehr als einmal hatte der Dorfschullehrer Vitale nach dem Kirchgang darauf angesprochen, dass sein Ältester, il grande biondo mit dem engelsgleichen Flatterhaar, im Unterricht eine gesundheitsschädigende Einstellung zum Schreiben hatte. Nicht nur, dass seine Körperhaltung zu wünschen übrig ließ, auch an Selbstbeherrschung mangelte es dem Neunjährigen. »So schlimm kann es nicht sein, oder, Maestro?«
»Kommt darauf an, Vitale, kommt ganz darauf an, was sich daraus noch entwickeln mag.« Und dann unkte der Lehrer von allerlei Schäden an Körper und Geist, die ein junger Mensch genau in dem Alter, in dem sich Serafino befand, nehmen könne, wenn er den hehren Geboten der Schulgesundheitspflege nicht fromme, zumal diese auf den neuesten Erkenntnissen basierten und in keinem einzigen Punkt wissenschaftlich in Zweifel stünden. Vitale nickte sein bekanntes In-den-Kragen-hinein-Nicken und bemühte sich, das eigene Schritttempo zu drosseln und sich den gewichtigbehäbigen Schritten des Lehrers unterzuordnen. Keine Frage, das war eine höhere Autorität, die zu ihm sprach, da tat man schon gut daran, zuzuhören und möglichst viele der gesprochenen Worte zu verstehen. Ab und zu hatte Vitale ja selber seine Mühe damit, den Ausführungen gebildeter Leute zu folgen, dann wurden seine Hände und Füße unruhig, und in ihm begann ein Kribbeln und ein Krabbeln die Blutbahnen hinauf und hinab. Aber dennoch, es ging hier um die Zukunft, um die Schicklichkeit und um das Seelenwohl von ihnen allen. Also bemühte er sich redlich und spitzte die Ohren, als der andere einmal mehr in einer Art pädagogischer Besessenheit seine Litanei über die Unerlässlichkeit einer korrekten Schreibstellung herunterbetete: Beide Füße mit flacher Sohle auf das Fußbrett stellen; Oberschenkel so platzieren, dass sie mit dem größeren Teil ihrer
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