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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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hatte er nur gemacht damit und wo kam er her?, wie er keuchend auf sie zurannte und dann bei ihr anlangte, verschwitzt, vergeistert, wie er sich an ihre Beine drängte wie das Baby, und dann wieder die Männer mit dem geschulterten Ding, das sich ebenfalls als Mann herausstellte, und sie trat stumm einen Schritt zur Seite, ließ sie alle eintreten, einen nach dem anderen, die Köpfe in Demut gesenkt, Entschuldigungen murmelnd, betend?, und sie ging ihnen hinterher ins eigene Haus, ins hintere Zimmer und sah ihnen zu, wie sie Vitale auf das Bett legten, ihm die Hände auf dem Bauch übereinander verschränkten, wie sie dann die Mützen vom Kopf zogen und betreten und stumm vor dem Toten stehenblieben.
    Ein Schrei wie aus der Hölle selbst durchschnitt SerafinosGehör, und noch bevor er den eigenen Vater tot daliegen sah – er sah zunächst nur Männerbeine und hängende Arme –, vernahm er das animalische Wehklagen seiner Mutter Giuseppina, wie sie den Himmel anrief, den Himmel, ihren Gott und die Mutter Maria und wieder den Herrn, immer und immer wieder, bis sie vor allen zu Boden ging und auf den Gneisplatten zusammenbrach.
    Es hatte einen Unfall in der Drahtzieherei gegeben. Alles war blitzschnell gegangen und eins zum anderen gekommen, so dass die Zeit zwischen Verstehen und Handeln zu knapp war. Vitale hatte sich mit seiner Jacke in der Ziehtrommel verhakelt, und fast gleichzeitig war der Draht gerissen, ein ganz furchtbares Bild, wie dieser völlig außer Rand und Band in wilden Bahnen durch die Luft schnitt und auf den armen Vitale eindrosch wie des Teufels Schwanz. Die Trommel hatte sich natürlich weitergedreht, auch als Vitale schon längst den Halt verloren hatte, und die gewaltige Kraft, die im Draht durch die Teilung erwacht war, musste den Unglücklichen direkt an seiner Schläfe getroffen haben. Vitale hatte wohl noch versucht, sich loszureißen, und war bei diesem Versuch ins Säurebecken gefallen, wo Teile seiner Hand aufblaterten.
    Aufgrund der Gleichzeitigkeit der Geschehnisse war für die Arbeiter schließlich nicht ganz klar, was Vitale nun zu Tode gebracht hatte, der Peitschenschlag an seine Schläfe oder der letzte Schritt, der ihn seitlich ins Säurebecken stolpern ließ, oder der Schrecken über beide Vorfälle zusammen. Tot lag er, und tot blieb er, und was anderes, als ihn nach Hause zu tragen, hätte man nun tun sollen?
    Ungläubig drängte sich Serafino zwischen den Beinen hindurch und starrte zuerst auf das Häufchen Mutter und dann auf das Gesicht des Toten. Es sah so aus, als ob er schliefe, jeden Moment konnte er seine Augen wieder aufmachen, aber die unheimliche Stille, die ihn umgab und dienur durch das heftige Atmen seiner Mutter durchschnitten wurde, entkräftete jeden Versuch, sich den Toten wieder lebendig zu reden.
    Mit einer Mischung aus Scham, Empörung, Schuldgefühlen und Wut verräumte Serafino unbemerkt seine Siebensachen, die Kleider in der Truhe, das Stück Brot in der Küche und Serafino-Pferd im Küchenschrank, von wo er es nie wieder hervorholen sollte.
    Natale, der die Daguerreotypien der Familie Senigaglia kannte, erkundigte sich bei Giuseppina in gedrücktem Ton, ob man nun nach dem Fotografen schicken solle. Als vor etwas mehr als elf Jahren ihr erstes Kind, Vitale junior, so plötzlich gestorben war, hatte Vitale senior darauf bestanden, von seinem toten Kind eine Daguerreotypie anfertigen zu lassen. Der Fotograf war zu ihnen hinaufgekommen und hatte für teures Geld, das Giuseppina eigens aus der Matratze hatte lösen müssen, ein Bild für die Ewigkeit gefertigt. Man hatte dazu das Kind in weißes Tuch gekleidet und auf einem Kissen drapiert: Das Tuch war zwar nur eine einfache Stoffbahn, aber durch geschicktes Arrangieren wirkte es wie ein weißes Kleidchen samt Bündchen und Saum. Die Augen des Säuglings waren friedvoll geschlossen, die kleinen Händchen mit den perfekten Fingerchen in andächtiger Ruhe übereinandergefaltet, ein rundes Beinchen am Knöchel über das andere gelegt. Die Haare hatte ihm der Fotograf noch penibel gescheitelt, ein dunkler Schopf, der sich sicher wie bei allen anderen Senigaglias in ein körniges lombardisches Blond ausgewachsen hätte, und selbst am Kissen hatte der Fotograf noch eine Weile herumgezupft, bis er mit dem Ergebnis zufrieden war. Dann hatte er das Bild gemacht und es wenige Tage darauf den trauernden Eltern überbracht. Die Erinnerung an ihr erstes Kind blieb so auf einer fünf mal sechs Zentimeter großen

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