Die Ruhelosen
jetzt aber auch keinen Reim machen konnte, wäre es ihr Verlust nicht. Also war die Sache beschlossen.
Bevor er abreiste, wollte Lazzaro noch einmal mit seinem Sohn einen Tag am Po verbringen. Zusammen mit der Amme fuhr er hinaus an den Strom und betrachtete lange versonnen das beständige Ziehen des Wassers. Dieses Inswasserschauen war wie ein metaphorisches Versinken in sich selbst. Er gelangte in Tiefen, in denen er neue Kraft zu spüren glaubte. Er hatte schon so vieles überstanden. Als plötzlich eine Anzahl Bäume tief unter dem Wasser trieb, längsgerichtet und noch mit vollem Laubbestand wie feenhafte Wesen aus einer anderen Welt, die mit grünen Armen nach ihm winkten, nach ihm riefen, ihm irgendetwas Wichtiges mitteilen wollten, überkam ihn eine ungeheure Ahnung, und eine Welle der Erschöpfung brach sich in ihm. Bäume, an dieser Biegung des Pos, waren etwas völlig Unpassendes. Die Flößer kamen nie bis hier herunter, und dass man belaubte Bäume, ein so wertvolles Gut, einfach so zu Wasser und forttreiben ließ, war etwas vollständig Undenkbares.
Etwas Unvorstellbares musste geschehen sein, etwas, das sich gar nicht denken ließ. Also war kein Denken angesagt, sondern Handeln, rasches Handeln.
Als er sich gefasst hatte, sprang er auf, rief die Amme mit dem Kind zu sich und veranlasste alles, um umgehend zurück in sein Mutterhaus nach Ferrara zu fahren.
Seine Mutter empfing ihn mit konsterniertem Blick. Seine Schwester saß in einer Ecke des Studierzimmers und heulte ungehemmt.
»Was ist …, wo ist …, was ist geschehen, Mutter?«
»Du gehst da nicht hoch!«
»Mutter – was ist passiert?«
»Rühr dich nicht von der Stelle, Lazzaro!«
»Du sagst mir jetzt sofort, wo Costanza ist!«
»Ach, Sohn!«
Lazzaro sah, wie der Körper seiner Mutter in sich zusammenfiel wie von einer übermenschlich großen Müdigkeit befallen.
»Mutter?«
»Sie hat die Köpfchen von den Zündhölzern geraspelt und sich damit vergiftet. Warte – geh da jetzt nicht hoch!«
Aber Lazzaro stieß seine Mutter zur Seite, nahm die Treppenstufen mit ausholenden Schritten und platzte ins Totenzimmer.
Entsetzt warf der Arzt den Kopf herum, er hatte gerade erst damit begonnen, den Leichnam zu säubern. Von Kot und Erbrochenem, Costanzas spontanen Abgängen, zwirbelte sich eine dünne rauchige Fahne in die Luft empor. Es roch leicht knoblauchig. Aber was wirklich unheimlich war: Kot und Erbrochenes waren von einem kalten Leuchten umgeben, sie phosphoreszierten, das heißt – sie schimmerten in einem geisterhaften Grün.
für die Ewigkeit
Bergamo, 1860
Serafino musste seinem Pferdchen Mut zusprechen. Er tränkte es am Bach, wir werden schon immer wieder etwas Essbares finden auf unserem Weg nach Prussia, das Wort selbst klang für ihn wie ein Kastanienbonbon. Er striegelte ihm Mähne und Schweifhaar, schlafen werden wir einfach unter den Bäumen, und schnürte sich sein Bündel. Das war nicht viel. Außer den Kleidern, die er trug, hatte er nur noch eine zweite kurze Hose, diese allerdings mit hübschen Hosenträgern samt Lederbesatz, ein Kragentuch, ein paar Socken und zwei fadenscheinige Unterhemden. Sein Sonntagshemd wollte er nicht mitnehmen, das würde er seinen Brüdern überlassen, ebenso den Schultornister mit den fraglichen Schreibutensilien darin. Den gestrickten dunkelgrünen Pullover, den er von seiner Nonna letzte Weihnachten geschenkt bekommen hatte, ließ er in der Truhe liegen; er wollte vor Wintereinbruch bei seinem Onkel angelangt sein. Es schien, er war gerüstet.
Nun galt es nur noch, den richtigen Zeitpunkt abzuwarten. Zwei seiner Brüder spielten hinter dem Haus mit einem abgenagten Fuchsschädel, sie warfen Steinchen in die Augenhöhlen und verschreckten die Hennen mit dem stoßweisen Vorschnellen des Kopfes und lautem Gefiep. Das Baby krabbelte in der Küche um Mutters Beine herum, wo der vierte Bruder war, wusste er nicht. Er gab sich einen Ruck und schlich an seiner Mutter vorbei ins hintere Zimmer, wo er sein Säcklein gepackt hatte. Dann begann er, unschuldsvoll ein Liedlein zu pfeifen, und schlenderte betontunbekümmert an Giuseppina vorbei. Ein letzter prüfender Blick über die Schulter, nein, sie stand noch immer den Töpfen zugewandt und hantierte mit der Kelle, ihre kantige Gestalt in hochgeschlossenem, schattigem Kittel, der einzige Farbtupfer war das bleiche Rot ihres Kopftuches, und auch der Jüngste schaute ihm mit keinem Blick nach. Es war höchste Zeit, dass er die Fäden
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