Die Ruhelosen
Kongressen und in schriftlichen Abhandlungen, aber oft rufe man ihn eben zu spät, oft sei der Schaden schon angerichtet und das ganze Ausmaß der Zerstörung einfach nur erschütternd, erschütternd, ja Erschütterung sei es, die ihn jedes Mal ergreife, wenn er zu einem Opfer des Modediktats gerufen werde.
Alžbeta hatte dieses Opfer geliebt. Aber um Anna zu lieben, war es noch zu früh. Alžbeta musste sich einen Ruck geben, die Frau überhaupt in ihren Gefühlsbereich vordringen zu lassen. Zu heiß glühte in ihr der Schmerz des Verlustes. Und mit über vierundsechzig gab man sein Herz auch nicht mehr so freimütig einem jeden dahergelaufenen Menschen her, man wusste ja nie, wie’s kommen würde, besser, man hatte sie erst einmal nicht allzu gern.
Dieses runde dunkle Surrogat mit dem schreienden Nistplatz auf ihrem schwarzen Haupt und der Brut in ihrem Bauch, als ob man durch all dieses Getöse etwas überdecken und zudröhnen wollte, was ja doch nicht aus ihrer aller Erinnerung zu entfernen war.
Wen sie aber weiter ungehindert gernhaben konnte, wen sie über all die Maßen liebte, herzte und immer wieder an sich drückte, gerade so, wie sie es einst mit ihrem eigenen Sohne gemacht hatte, war der sechsjährige Feri Schön. Er hatte die goldenen Locken seiner Mutter geerbt und deren teichtiefe Augen. Zwei, drei Sprenkel blassen Rots über die breite, gerade Nase verstreut, war er eine konstante Erinnerung an Ferenc Dušans erste Frau. Er saß auf Omamis Schoß und staunte mit offenem Mund, als er den ganzen Aufmarsch auf sich zukommen sah. Ach, das arme Kind hatte ja keine Ahnung, welchem Schauspiel es da zujubelte, und ob diese neue Zukunft auch für ihn ein paar Wunderbereithalten würde, vermochte noch keiner zu sagen. Alžbeta umschlang den Jungen mit Inbrunst, so wie sie es seit Krisztinas Tod oft tat, auch und gerade vor Ferenc Dušans Augen. Der hatte sie gewähren lassen, war froh darum, der Verantwortung enthoben zu sein, lieben zu müssen. Jetzt, wo sein Plan, mit Krisztina alt und ewig vertraut zu werden, zerborsten war, was wollte er da mit dem Kind? Bloße Erinnerung an sein Versagen, denn, hatte er nicht so etwas wie Ungläubigkeit, ja giftige Anklage gespürt in Alžbetas Blick, als er ihr beteuerte, er habe davon keinerlei Kenntnis gehabt, wirklich nicht, er habe nicht gewusst, wie eng sich Krisztina den Bauch schnürte?
Seit dem Verlust der Schwiegertochter aber empfand es Alžbeta gerade selbst so, als wäre ihr die Brust abgeschnürt, und manchmal, und gerade in den letzten Tagen vermehrt, überkam sie eine Ahnung, als ob sie nicht mehr allzu lange zu leben hätte. Aber jetzt war sie ja lebendig, jetzt war sie hier und hielt den kleinen Feri fest im Griff, und einerlei, wohin Ferenc Dušan seinen Blick auch lenkte, ob er ihr damit auswich, große Bogen in der Luft nachfuhr und mit seinem inneren Operngucker auf irgendein belangloses Detail blickte und dabei den Gesamtkontext nicht sah, weil er für ihn einfach nicht sichtbar war, egal, egal, dem kleinen Feri würde sie Mutter und Vater und Omami zugleich sein, solange sie noch lebte, keine Frage.
Nein, diesen Beweis seiner Unfähigkeit mochte er nicht länger und nicht öfter als nötig unter seinen Augen haben, und so hatte Ferenc Dušan nichts dagegen, dass sich seine Mutter mit Ferenc junior in der Kirche in die erste Reihe setzte und das Kind eng an sich drückte, mit Blicken verwöhnte und Händen verzärtelte, dass sie ihn gerade so gern hatte und liebte, wie sie es tat – Ferenc Dušan konnte es ja nicht.
Aufschwung
Fiume, 1894
Acht Pritschenwagen mit insgesamt sechs Rappen, einem Fuchs, einem Caramel, zwei Braunen und zwei Apfelschimmeln vorgespannt, zwei herrenlose Hunde, sieben Katzen, sechzehn übereinandergestapelte Fässer, ein Berg zusammengefalteten Segeltuchs, vier Männer mit Handkarren, dreizehn Matrosen, unzählige Kaufleute in braunen, schwarzen und grauen Hosen, allesamt mit weißen Hemden und behutet, mit und ohne Schlips, mit Papieren in der Hand, einem Stock, einem Koffer, dann eine Gruppe orthodoxer Juden, fünf Jungen mit angeschmutzten Gesichtern, und groß und stolz und mächtig die Dampfschiffe des Österreichisch-Ungarischen Lloyd, anziehend und berückend die Segelschiffe aus Malta, Griechenland und der Türkei, Meeresriesen der Adria-Linie, der Oriente-Linie und die dampfbetriebenen Ungetüme der Anchor-Line, welche mutig die Ozeane der Welt durchpflügten, am Boden die Tauben und auf seiner eichenen
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