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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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da saß er nun, auf dem dreibeinigen Hocker vor einem Fotografen, auf dessen Fensterscheibe »Edwin Jucker, Photographisches Atelier«, gepinselt stand und der geduldig darauf wartete, bis Guerrino seine Schultern dreimal nach hinten gerollt hatte, um sich zu lockern, dann das Kinn mit Schmiss leicht schräg nach vorne und den Kopf um ein paar Grad weiter in den Nacken warf.
    »Nöt bewegä«, sagte Jucker bedeutsam und betätigte seine Balgenkamera.
    Noch Tage später, als die Tinte mit dem Eintrag
Zuzüger Senigaglia Guerrino aus Italien, Beruf: Arbeiter
im Arbeitergemeindebuch getrocknet war und sich bereits Dutzende neuer hoffnungsfroher Namen unter dem seinen befanden, rührte es Guerrino unheimlich an, wann immer er diese erste Fotografie seiner selbst betrachtete. Er sah einen forschen jungen Mann, das Haupthaar in widerspenstigem Kampf nach hinten geflacht, den kleinen Schnauzbart zaghaft angetönt über der steilen Oberlippe, dieUnterlippe fast wie im Trotz zugeklappt, den Mund hermetisch geschlossen, grimmiger Fisch, und doch spitzelte da in den Winkeln ein kleines überzeugtes Lächeln hervor, ein Blitzen, das sich auch in seinem rechten Auge widerspiegelte, derweil das linke fest und ehern in eine Zukunft blickte, die irgendwo weit draußen, weit hinter dem Schaufenster von Edwin Juckers Photographischem Atelier, hinter dem unebenen Plätzchen, dem zweitrogigen Brunnen und hinter der nächsten Häuserzeile, hinter dem dahinterliegenden Felde noch soeben erst begann.

la suffragista
    Westaustralien, 1899
    Grazia Modestina Senigaglia, Guerrinos älteste Schwester, aber war mit der Gattin des Doktors Spinnenhirn im Hafen von Genua über das Fallreep auf einen aufsehenerregenden Ozeandampfer gestiegen. Als Frauenrechtlerinnen hatten die beiden die letzten Jahre über für das Wahlrecht gekämpft, hatten Politiker mit faulen Tomaten beworfen oder waren mit Gleichgesinnten wochenlang in Hungerstreiks getreten, hatten passiven Widerstand geleistet und öffentliche Veranstaltungen einflussreicher Männer durch ihre ungebetenen Auftritte gestört. Nichts hatte sich verändert, kein Stift hatte sich gelöst im lückenlosen Gefüge männlicher Herrschaftsgewalt.
    Und so machte sich Grazia, noch bevor das alte Jahrhundert sein Haupt zur ewigen Ruhe niederlegte, zusammen mit Emilia Spinnenhirn auf den Weg nach Liverpool, wo sie sich anderen wilden Frauen anschlossen und von wo sie schließlich mit einem Frachter erneut in See stachen.
    Nach bald vierzigtägiger Reise landete der Frachter in Freemantle Harbour, Australien, an, zu den Zeiten des großen Goldrausches, und es schien zumindest so, als ob die Menschen hier gewillt wären, auch ihnen als Frauen einen gleichberechtigten Platz in der Gesellschaft zu gewähren. Grazia Modestina Senigaglia heiratete noch im selben Jahr den Goldschürfer Ernest Daniel Young und bearbeitete mit ihm gemeinsam die neuen Claims. Sie gründete die West Australian Women’s Gold Corporation und war eine geschätzte Gastgeberin.

Teil 3
Paarungsrituale. 1900–1932
    So verschieden der Ritus der Fortpflanzung ist, so verschieden die Formen der Vogelehen sind, um die Art zu erhalten, braucht es immer zwei: das Paar.

das Ungeheuer aus den Abruzzen
    Herisau, 1900
    Als der Glückliche bereits über eine Anstellung bei der Firma Longoni in Herisau, dem Baugeschäft eines Tessiners mit Namen Josef Longoni, verfügte, wo er seit drei Wochen mauerte und handlangerte, und als er an einem seiner freien Tage abends an der Glatt entlangspazierte und dann wieder hoch ins Zentrum von Herisau und durch die pittoresken Gassen schlenderte, herbstliche Schweizer Luft schnupperte und seine Arme schlenkern ließ, durchfuhr es ihn wie ein Stromstoß. Gerade noch hatte er die neue Brückenwaage auf dem Obstmarkt bewundert und über die geschindelten Klebdächer geschmunzelt, die jedes Fensterchen wie ein enges Äuglein mit Braue anmuten ließen, als er abrupt stehenblieb und seine Ohren spitzte. Aus einem der sonnengebeizten Holzhäuser hörte er Stimmen, ob deren Sprachmelodie ihm heiß und kalt den Rücken herabrieselte. War er noch bei Sinnen? Trübte die Schweizer Luft seinen Verstand? Oder war das wirklich der Singsang der Zimbern? Er strengte sich an, etwas vom Gesprochenen zu verstehen.
    »Bas tüüt de Zait? Khimmet dar Reego?«
    »Ja, de Zait ombìttart.«
    »Oi, bittana sante!«
    Eindeutig, da waren zwei Frauen in ein Gespräch über das Wetter vertieft. Er kannte sich in den einzelnen Vokabeln des

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