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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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Zimbrischen nicht aus, aber seine alljährlichen »Handelsreisen«, die er als Jugendlicher mit seinem Vater Serafino unternommen hatte, hatten ihn regelmäßig in die Sette Comuni, die Sieben Gemeinden, geführt, in die oberitalienischeProvinz Vicenza und Umgegend, und nicht selten hatte er sich in diesen Hochebenen wie auf einer Sprachinsel gefühlt, umwogt von fremden Klängen, die in eigentümlicher Harmonie fast mystisch sein Gehör umnebelten. Und ihn verzauberten. Wohl nicht zuletzt, weil Comsola di Bosco dieser Minderheit angehörte.
     
    Unwillkürlich sah sich Guerrino wieder den Fabrikschloten von Alzano Lombardo gegenüber, den patinagrünen Wäldern, den ausgesprochen freundlichen Menschen, die jederzeit so hilfreich waren, so wohlgesinnt und arglos, er sah die dunkel bewachsenen Füße der Alpen und spürte den schweren Sommerwind in seinem Gesicht. Und wieder war er unterwegs, diesmal in Gedanken und gefühlten Momenten, den heißen Maultieratem dicht an seinem Ohr, wenn er das Lasttier die schmalen Bergpfade am rohen Strick hinter sich herführte; er spürte das Heiße, Helle, Drückende, den kindlichen Wunsch nach Meer …, und während Guerrino so dastand, dicht an die Hauswand gelehnt, und seinen Ohren kaum traute, wischte ihn seine Erinnerung hin und her zwischen Bergamo und Marostica, beides große Städte für einen kleinen lombardischen Jungen, und noch einmal ließ er sein Maultier an der Tränke nahe der Piazza saufen, noch einmal strich er vorbei am Gewürzgarten, hörte die Zikaden und erschauderte ob der erschreckenden Fresken von Hölle und Verdammnis, die einzelne Häuser zierten. Die Sonne war damals wie Balsam mit Sand vermengt, Watte mit einem scheuernden Kern auf seiner Haut, und nur in den Hinterhöfen von Bergamo war es dunkel und kühl. Und dann wieder ein Bild von unterwegs, Zedern, phosphoreszierende Tupfer und Pinselstriche in der flachen Landschaft und Zypressen, Manifestationen von Glück. Je tiefer sie nach Marostica hineinkamen, desto knorriger und krumpeliger wurden die Stämme der Olivenbäume,die an den Hängen wurzelten, alt und von der Sonne ausgebrannt, und wenn er weiter die Bergkuppen hinaufschaute, hingen da die allein stehenden Bäume wie Bartstoppeln an einem Wangenbein, der Wald reichte diesem Riesen bis über das Kinn hinab und lief als rotbuschiger Bewuchs noch über seine Wiesenbrust. So kannte er seine Heimat, so kannte Guerrino sein Land. Das Land, das auch den Zuwanderern, welche vor vielen Hundert Jahren die Sieben Gemeinden gegründet hatten, zur Heimat geworden war. Eben zum Beispiel Marostica, das Ziel und der Wendepunkt der alljährlichen Drahtschrottreise, eine Stadt, in der die Menschen schnatterten und ein geflügelter Löwe auf der Säule den Hauptplatz majestätisch überwachte. Die Klarheit und Strukturiertheit dieses Platzes vermittelten ihm immer ein Gefühl von Sichersein, hier konnte man sich gehenlassen, alles war endlich gut, man war ja schließlich angekommen.
    Von oben her betrachtet, verteilten sich die roten Dächer kreuz und quer über die Ebene, und wenn man von unten hinaufsah, erkannte man die Geborgenheit dieses Städtchens inmitten der Hügel und des Waldes. Und irgendwo dort also hatte sie gewohnt, Guerrinos meist gefürchtete und heißest begehrte Bergziege, die unerschütterliche Comsola di Bosco aus dem Vallonara bei Marostica. Ihre Schlagfertigkeit ließ ihn jedes Mal verstummen, sie war eine waschechte Tochter der Zimbern, redete zu Hause ausschließlich Zimbrisch, und auf ihre krummen Beine angesprochen, behauptete sie, diese seien das stolze Erbe einer langen Wanderung.
     
    Er lauschte noch immer, auch als es leise zu graupeln begann, merkte er das kaum. Denn jetzt hörte er es ganz genau, das Heisere ihrer Stimme, und er war sich sicher, dass hinter diesen Wänden, hinter diesem halb geöffneten Fenster,der Geist von Comsola war, der da sagte: »Dai, dai, dai!«
    Guerrino bemühte sich zu verstehen. Offenbar war Comsola Vorarbeiterin einer Textilfabrik in Tablat, zumindest sprach sie mit einer anderen Frau über ihren Arbeitstag, der mehr als ermüdend gewesen sein musste.
    Die weitere Konversation schien auf einer etwas vertraulicheren Basis zu verlaufen. Die beiden Frauen mussten wohl die Köpfe näher zueinander gerückt haben, überlegte Guerrino, aber Glück gehabt, sie redeten nun Italienisch, und Guerrino klaubte jede einzelne Begriffsschwade aus der Luft und verstaute sie verstohlen in seinem Gedächtnis.
    »Dio

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