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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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mio. Sie hätten mich ja nicht unbedingt in einer Vollmondnacht zu zeugen brauchen.«
    »Comsola, versündige dich nicht!«
    »Ist doch wahr, Esperanza, keine andere Frau habe ich je gesehen, die solche Beine hat«, und etwas leiser, kaum mehr zu verstehen für einen, der draußen an der Hauswand lauschte, »so behaart.«
    Darauf folgte ein unverständliches Gebrabbel auf Zimbrisch, das in trautes Gelächter überging. Dann blieb es eine Weile still.
    Guerrino merkte nun doch, dass sein Kopf nass wurde, die Mütze schirmte ihn nur unzulänglich vor dem kühlen Schauer. Beide Hände hatte er fest in die Hosentasche gestopft, als ob er dadurch ein Entdecktwerden verhindern wollte. Klar denken konnte er nicht, hätte er eins und eins zusammenzählen sollen, er hätte wohl immer wieder von vorne beginnen müssen. In seinem Kopf waren die Gedanken zu einer wilden Jagd aufgebrochen, die er in ein Stillleben versuchte zu verwandeln, in etwas, das Sinn ergab. Comsola hier. In Herisau, dem Hauptort des kleinen Kantons Appenzell Ausserrhoden. Im Herzen der Eidgenossenschaft. Mittendrin. Er wusste wohl, dass die Betreiber der Bleichereien,Färbereien und der Ätzereien, deren Gebäude und Hochkamine man im ganzen Tale bewundern konnte, in Norditalien aggressiv um neues Personal warben. Die italienischen Frauen galten als zähe Arbeiterinnen, auch hier hörte er von italienischen Webermädchen, die ihre Schiffchen noch durch den Wasserfall der Fäden steuerten, wenn das die Schweizerinnen wegen wunder Finger längst aufgegeben hatten. Sie hatten sich einen guten Ruf erworben, diese Italienerinnen, einen Ruf des Fleißes und der Robustheit, so jedenfalls wussten es die Stammtischler im Storchen zu berichten, und die hatte Guerrino mehr als nur einmal zufrieden belauscht. Stolz war er ja auch, dass er selbst in die Schweiz gekommen war und es ihm gelungen war, gute Arbeit zu finden, zumal doch die meisten seiner Landsmänner lediglich als Anhängsel ihrer strebsamen Frauen geduldet wurden. Es war ein offenes Geheimnis in Herisau, dass man sie für Tunichtgute hielt, die das Geld der braven Frauen schamlos versoffen. Zum Glück gab es im Steinbruch immer wieder Einsatzmöglichkeiten für sie, dort konnten sie Appenzeller- oder Schachengranit für die Bodensee-Toggenburg-Bahn abbauen. Oder sonst was tun. Jedenfalls nicht mehr zwischen den Schindelhäusern herumlungern und der ehrbaren Schweizer Frau nachpfeifen. War Comsola etwa mit einem solchen Mann im Schlepptau hergekommen?
    Und dann hob die eine Stimme wieder zu sprechen an, die, so ohne jeden Zweifel, seiner krummbeinigen Jugendbekanntschaft gehörte: »Wie ein Werwolf aus den Abruzzen, so sehe ich aus. Meine Strümpfe können nie dick genug sein, Esperanza, es ist doch zum Verzweifeln.«
    »Komm, halt still, sonst kann ich dir die Härchen nicht zupfen. Hör zu, ich habe vernommen, dass man mit Hilfe von galvanischem Strom und einer Nadel die Haare auf Dauer entfernen kann. Man muss nur einen Arzt finden, der sich darauf versteht, dann bist du deine Sorge los.«
    »Und wer soll das bezahlen? Es ist ja nicht gerade so, dass wir reiche Leute wären.«
    »Gib die Hoffnung nicht auf, Comsola. Übe dich in Zuversicht. Bete.«
    »Du hast leicht reden.«
    »Und sprich nicht mehr von Kreaturen der Hölle, Comsola! Du bist ein Geschöpf Gottes wie wir anderen auch.«
    »Auch wenn ich pelzig bin wie eine Bärin …«
    »Scht, beweg dich nicht, ich bin noch nicht fertig mit deinem linken Bein.«
    In Guerrinos Kopf war alles ganz durcheinandergeraten. Was sprachen die beiden da von Tieren, Haaren und elektrischen Nadeln? Er wusste, dass er sie bei etwas belauscht hatte, was nicht für seine Ohren bestimmt gewesen war, aber diese Stimme, die er so lange vermisst hatte, ohne dass er wirklich hätte benennen können, was ihm fehlte, diese Stimme band ihn an diesen Ort, hielt ihn in diesem Moment gefangen, und er wäre nirgendwo anders lieber gewesen als ganz genau jetzt ganz genau hier.
    Der Himmel hatte seine Wolkenwand aufgerissen, so dass das sanfte Abendrot durch die dunklen schweren Schwaden leuchten konnte. Mit beiden Händen wrang Guerrino seine Mütze aus und setzte sie wieder auf. Nie hätte er damit gerechnet, so bald schon jemanden aus der alten Heimat in der Schweiz wiederzufinden. Alleine war er losgezogen, alleine war er angekommen. Alleine hatte er alles gemeistert, was zu meistern war. Und nun Comsola. Nur eine dünne Holzwand von ihm entfernt. Wäre er ein Geist, er hätte

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