Die Ruhelosen
die Hand ausstrecken und durch die Wand zu ihr hinlangen können.
Sie jetzt hier wiederzufinden entsprach einem unmissverständlichen Wink des Schicksals – aber was, wenn Comsola eben doch verheiratet war? Seine Gedanken rotierten, und er wünschte sich zu ihr hin, in diesen Raum, hinter diesegebeizten Wände, in ihr Leben und ihr Gespräch hinein und damit in eine Nähe, die nichts mit Berührung zu tun hatte, aber vieles mit seelischer Trautheit, geistigem Verbund. Das Leben war plötzlich so unmittelbar. Dem jungen Krieger für ein neues Glück, Guerrino, verschob sich der Schwerpunkt im eigenen Körper mit jedem Herzschlag, wanderte, wanderte, und er musste sich von Sekunde zu Sekunde ein neues Gleichgewicht suchen. Indem er sich aus der eigenen Lebensmitte, dem Zentrum seiner eigenen Wahrnehmung rückte, schaffte er Platz für kommende Schätze. Sein aufbewahrendes Herz war ganz außer Rand und Band, es rumpelte, etwas aber bereitete ihm Sorge: die Erinnerung an ein unschönes Wort, das sich ergeben hatte, ausgerechnet bei seiner letzten Drahtschrottsammeltour, ausgerechnet damals, als er Comsola das letzte Mal gesehen hatte …
Irgendein Dorflümmel hatte es darauf abgesehen gehabt, sich mit Comsola ein Späßchen zu erlauben. Er hatte sie im Wirtshaus getriezt und war sie in zweideutiger Weise angegangen, so dass sie lauthals schimpfte. Jetzt erinnerte sich Guerrino auch daran, dass sich damals vor Aufregung die Idiome vermischten und Comsola in einem unverständlichen Kauderwelsch, halb Italienisch, halb Zimbrisch Paroli bot. Umso erregter hatte der Junge reagiert, der sich Comsola als Opfer ausgesucht hatte. Er hatte, wenn sich Guerrino recht erinnerte, heftig über ihr Aussehen gespottet, darüber, dass sie wie ein unfruchtbarer Olivenbaum nutzlos in der Gegend herumstehe und die Sicht auf blühendere Bäume verstelle, und dann hatte er noch behauptet, er hätte sie bei der Toilette beobachtet, und da hätte er gar Schauderliches gesehen, sie wisse wohl, worauf er anspiele, und sie solle jetzt nur schön brav den Mund halten, sonst wüsste morgen die ganze Provinz Vicenza, was für ein Monstrum – und dieses Wort hatte der Junge ganz besonders betont: mostro – obenin Vallonara wohnte und in Marostica gelegentlich servierte: »Mit dir stimmt doch einfach etwas nicht!«
Guerrino und sein Vater waren just in dem Moment dazugekommen, als der Junge seine Tirade mit einem gehässigen Zungenschlag zu Ende brachte. »Was soll mit mir schon nicht stimmen?«, hatte Comsola aufbegehrt, aber sie klang kleinmütig und hatte sich hilfesuchend an die Eintretenden gewandt. Und in diesen beiden rechtschaffenen Drahtschrotthändlern aus dem fernen Bergamo erkannte sie die Gelegenheit für Rehabilitation, die beiden waren ohne Falsch und Trug, sie würden die Welt wieder geraderücken und diesen impertinenten Trottel blöd dastehen lassen, ganz bestimmt. Und so setzte sie zur rettenden Frage an, die sie ziellos an einen der beiden Senigagliamänner richtete: »Und ihr? Findet ihr etwa auch, dass mit mir etwas nicht stimmt?« Randvoll von verzweifelter Hoffnung und Ungeduld bangte Comsola auf Antwort. Aber Serafino Senigaglia griff sich lediglich ans Kinn und sein überrumpelter Sohn Guerrino sagte nur: »Ich weiß nicht, ich vermag das nicht zu sagen, ich kenne dich ja kaum.«
Damit war diese Chance zünftig vertan, und Comsola ging den Senigaglias in den Folgejahren mit beharrlicher Regelmäßigkeit aus dem Weg.
Und er, Guerrino, begossener Pudel, Unglücksrabe, povero ragazzo, fühlte sich von dem Tag an wie ein Wurm. Dabei hatte er doch nur die Wahrheit gesagt, er kannte sie ja wirklich nicht. Und wie gern er sie doch gekannt hätte! Wie gern mit ihr geredet und Geheimnisse mit ihr geteilt, aber dazu war es jetzt wohl zu spät, diese Flausen konnte er sich aus dem Kopf schlagen.
Guerrino wachte aus seiner Versteinerung erst wieder auf, als er die zweite, die unbekannte Frauenstimme von drinnen sagen hörte: »S tüü-mar ante missan ingheenan hèmmest.«Wenn diese jetzt wirklich aufbrechen musste, würde er beim Lauschen ertappt – ein zweites Mal der mit Pech Übergossene. Nein, das konnte er nicht zulassen, also schnappte er dem Schicksal kurzerhand den Vortritt weg und klopfte mutig an die Türe. Auf das fröhliche »Bèar ist hia?« erwiderte er seinerseits in gebrochenem Zimbrisch: »Guerrino Senigaglia, ich süuche Comsola di Bosco.«
Die Türe wurde ihm geöffnet, und er trat hinein in eine
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