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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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und weiter über die Bürgerhäuser hinaus auszudehnen, in südlicher Richtung bis nach Debrecen und in nördlicher hinauf nach Kassa, wo die erste Gesellschaft regelrecht ausgehungert nach neuen Frisuren gierte, und zwar einerlei, ob Altadelige oder Nobilitierte, ahnten nichts von seinen düsteren Gedanken. Sie sahen in ihm einfach ein Paar Hände mehr, die mit anpacken konnten, und im Übrigen war er im besten Alter, um in die Kunst des Frisierens eingeführt zu werden. Mit seinem Blick verzückte er so manche Kundin, die sich das Haar nur von ihm waschen lassen wollte. Virag und Károly beobachteten diese Anziehungskraft mit einem gewissen Missbehagen, hielten sich aber mit Vorhaltungen zurück, solange keine Beschwerden an sie herangetragen wurden, keine Gerüchte über allfällige Unarten und kein Klatsch.
    Feri lernte schnell. Binnen kurzem beherrschte er die Klaviatur des eigenen Mienenspiels, sein Gesichtsausdruck schien einer jeden Situation passend eingeübt, seine Gesten blieben zurückhaltend, verfehlten ihre Wirkung aber nie. Es war ihm bald, als führe er die Menschen in seinem Umfeld an unsichtbaren Fäden, ähnlich den Marionettenfigürchen, die aufgeregt an Seidenschnürchen zitterten, welche mit einem feinen Gestell aus Sandelholz über einem Hut thronten, den seine Muhme und sein Oheim nebst einem verstaubten Diadem aus Schmetterlingsflügeln und einem Aufsteck-Schiffchen von einem Gebrauchtwarenmarkt aus Kassa mit nach Hause getragen hatten. Sie bewunderten diezarte Machart der einzelnen Gebilde, welche einst, zu ihrer Zeit, sicher der letzte Schrei gewesen sein mussten, als sie auf irgendeiner Hochsteckfrisur einer Gräfin oder sonst einer Weibsperson prangten, und das Zucken seines Fußes, das trotz der übereinandergeschlagenen Beine wie ein Flügelschlag des Unwillens, wie ein kleiner Blitzableiter – flip flap und weg –, diesen Gedanken sichtbar weit von sich kickte, verriet niemandem außer Feri selbst, wie tief unglücklich er hier war, bei diesen dummen Begaffern und Sammlern anderer Leute Schaffenskunst.

die große Reise beginnt
    1899, Herisau
    Vergessen waren die Tage und Nächte der Ungewissheit, vergessen der Hunger und der Durst, vergessen und verdrängt und in den See des Nichtmehrwissenwollens hinabgestoßen die Abende, an denen er halbtote Vögel aus Rosshaarschlingen, Leimruten und Steinquetschfallen geklaubt hatte, nur um sie eilends zu rupfen und über dem offenen Feuer anzubraten, bevor er sie gierig in den Mund stopfte und verschlang. Unterdrückt und ins Unterbewusste befördert, das Bild des hungrigen Krähenbeißers, zu dem er auf dieser Reise geworden war.
    Nie mehr daran denken, nicht erinnerungswürdig, wie ihn seine Verdauung danach geplagt hatte, ganze zwei Tage lang, wie er fieberte und sich beschmutzte und wie lange es gedauerte hatte, bis er die Hose im Bach wieder sauber gerubbelt hatte und sie an der Luft getrocknet war. Verschmerzt die Scham über das Sich-verstecken-Müssen, ob mit oder ohne Kleider.
    Verweht auch die Angst vor dem Herbst, entfallen die Bangigkeit, ob ihm dieser gütig gestimmt bliebe auch da, wo der Vogelfang keine Notwendigkeit mehr war, da, wo er fremden Menschen mit fremden Gesichtern die Kastanien aus den Kellern klauen sollte oder die Dörrfrüchte von den Gestellen rauben, die ihm zumindest einmal peinlich bekannt vorkamen. Vergessen und hinuntergeschluckt auch der Schmerz, als er den Genuss einer bleigespickten Schnepfe mit dem Verlust eines Eckzahnes bitter büßte und wie er davonstiefeln und Fersengeld geben musste, als ihn dergroßgewachsene Jäger im Unterholz entdeckte, was waren die Nordländer doch hochgeschossen, beeindruckendes Volk, zu dem er da unterwegs war. Denn ja, das war er, unterwegs, seit Tagen und seit Wochen schon. Verirrt hatte er sich wie ein dummes Kind, verirrt und in den Tiefen des Gebirges verlaufen, war tumb im Kreis gegangen wieder und wieder, bis er endlich den Lauf der Sonne verstand, die Himmelsrichtungen spürte und eine neue, diesmal richtige Richtung einschlug. Und nun, endlich, war er angekommen. Guerrino hatte sich aus lauter Erleichterung auf dem Felde vor dem Dorfe noch eine gelbe Blume gepflückt, die er nicht kannte, eine späte Primel vielleicht, und er hatte sie sich wie zur Selbstaufrichtung ins Knopfloch gesteckt, die weiße Krawatte gebunden, den Kragen zurechtgestupft, Sakko und Überrock gestrafft und sich das Haar mit etwas Spucke aus dem Gesicht gestrichen, sportlich nach hinten, und

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