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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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Menukarten hochhielt, bestätigte sich seine Vermutung, zu der ihn die Sommersprossen gebracht hatten: Das Kind war seines. Am 10.   10.   1908 war es zur Welt gekommen. Franz Mauritz hieß es. Und Mauritzia hatte noch vor der Geburt die Flucht aus Samstagern angetreten. Wie es sie ausgerechnet hierhin, nach Sankt Immer, verschlagen hatte, wollte sie nicht sagen, aber vielleicht konnte sie es auch einfach nicht, weil sie sich wirklich nicht mehr daran erinnerte. Irgendwann war sie in diesem Teil der Schweiz angekommen und hatte sich eine Beschäftigung in einem Haushalt gefunden, bei der sie das Kind behalten konnte. Aber sie sehnte sich danach, endlich nicht mehr fremdes Brot essen zu müssen.
    »Das ganze Theater hat hier auch schon wieder angefangen, François. Bislang ist es mir gelungen, Monsieur auszusperren. Aber Madame mit ihrer Leichenbittermiene und der Totengräberstimmung, in die sie sich Tag für Tag hüllt wie in eine alte Robe, macht mir halt das Leben schwer.«
    Und das Herz. Hätte sie hinzufügen wollen. Aber die vielen Worte hatten sie so erschöpft, sie war es gar nicht mehr gewohnt, zu reden. Ihre Brust bebte. François füllte ihr ein Glas mit Wein und schob es ihr zu. »Du hast ihn alsonach mir benannt. Nach uns. Wie konntest du so sicher sein?«
    Also holte Mauritzia tief Luft und antwortete: »Der Herrgott hat mich geleitet. Der Herrgott hat dich damals in meine Kammer geführt und entschieden, dass daraus ein Kind erwachsen sollte. Er hat es mir unter die Brust gelegt und dazu geschaut, dass es lebendig und heil auf diese Welt kam«, sie holte noch einmal Luft, dann fügte sie abschließend hinzu: »Nun hat der Herrgott unsere Wege wieder zusammengeführt.«
    Dieser Herrgott überzeugte François wenig. Aber seine Idee, sich mit einer Schweizerin zu verheiraten, kam ihm mit vorrückender Stunde immer folgerichtiger vor. Zuerst heiraten, dann sich einbürgern lassen. Hier bleiben. Sicher sein. Erfolgreich sein. Jemand sein. Integriert sein. So, wie er in Paris jemand gewesen war. Aber auf die Franzosen mit diesem Windbeutel Poincaré als Präsidenten war ja kein Verlass. Dieses groteske Gesocks dort palaverte viel zu viel und handelte zu wenig. Das alles war zu unbeständig; erschütternd eigentlich.
    Er kramte etwas aus seiner Rocktasche hervor, einen Zeitungsausriss, den er schon eine geraume Zeit mit sich herumtrug. »Hier. Hier steht es schwarz auf weiß:
Helfe Ihnen bei der Einbürgerung. Alle Papiere werden für Sie ausgefüllt. Erfolgsgarantie. Honorar angemessen.
Man hört, es gibt Gemeinden mit nicht mehr als 34 Bewohnern, die nicht weniger als 200 Ausländer eingebürgert haben, ohne dass diese jemals einen Fuß auf Gemeindeboden gesetzt haben! Damit bessern sich diese Gemeinden die Kassen auf und senken die Steuern für die Eigenen, schlau, diese Schweizer. Und alles nur eine Sache des Geldes, Mauritzia, verstehst du? Es geht ihnen dabei nur ums Geld. Und wenn ich etwas habe, dann ist es Geld. Geld, damit kann man sich hier einfach alles kaufen.«

le tzigane de la mer
    Atlantischer Ozean/Rio de Janeiro, 1914–1915
    Und dann war es plötzlich wieder so weit, er sah Europa, er sah einen ganzen Kontinent hinter dem Horizont verschwinden. Aus Elia Costantino Italo Israël war ein musizierender Seemann geworden, einer, der mindestens drei weinende Frauen in jedem Hafen zurückließ und der wahrscheinlich nicht einmal von ihnen wusste. Sein Charakter war wie das offene Meer, unberechenbar und den eigenen Gesetzen folgend. Insgesamt war Elia schon dreimal um die Welt gereist und hatte dabei auf den modernsten Konzert-Dampfern gespielt. In einem leichten Anflug von Selbstironie nannte er sich gerne »le tzigane de la mer« und wusste nur zu gut um das Bezirzpotential, das solch eine scheinbar unbedacht hingeworfene Phrase bei den Damen der feinen Reisegesellschaften haben konnte. Er spielte Cello und Klavier, und sein musikalischer Schwung war einfach göttlich. Beinahe in jedem Ensemble war er der Kopf der Truppe, der Kapellmeister, das heißt, er war der Chef.
    Zurzeit stampfte der Koloss – die Cap Arcona – in Richtung Südamerika. In Rio, der Hauptstadt Brasiliens, wo Elia an Land gehen wollte, hatte er bei seinen früheren Aufenthalten für gutes Geld gespielt. In Bars und Spelunken und bald auch in feinen Salons und bei »Soirées Privées«, welche sich für ihn als ganz besonders lukrativ erwiesen.
    Für wie lange er dieses Mal bleiben würde, wusste er nicht. Auch nicht, ob

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