Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
Vom Netzwerk:
Unantastbarkeit aus, Distanz. In jedem zweiten oder dritten schien ein Uhrmacher zu residieren. Ja, das hatte er schon gemerkt, dass in der Schweiz Pünktlichkeit die Erkennungsmarke der Erfolgreichen war, und ganz offensichtlich war sie hier erfunden worden: in Sankt Immer. Überhaupt schien ihm der Ort wie ein kategorischer Imperativ zu sein, so und nicht anders hatte der Schweizer Mensch, die Welt der Schweizer zu sein. Selbstsicher, aber nicht zu sehr, unübersehbar, obgleich nicht allzu herausgeputzt, ohne Angriffstendenzen, aber zu jedem Kampf bereit. Sakrosankt in einer typisierten stillen, leicht überheblichen Ausstrahlung.
    Vielleicht wegen der umliegenden Berge, überlegte François, sie vermochten die Außenwelt auf annehmbarer Distanz zu halten. Egal, er brauchte sich hier ja nicht länger als nötig aufzuhalten. Und auch in Peuchapatte nicht, der Gemeinde, die nach Einnahmen langte: ein Drittel für die Armenunterstützung, zwei Drittel in die Gemeindekasse. Ein Handel, bei dem ihm besagter Notar helfen würde. Und der sein Entréebillett in die Schweizer Gesellschaft war. Wenn er es geschickt anstellte, wenn er überzeugte. François hatte in einer liegengelassenen Zeitung, LE JURA, zwischen Annoncen für Lotterielose, einem Danse Publique irgendwo im Haut-Rhin, einem Mardi Gras mit Maskenball ab acht Uhr abends in Porrentruy, Insektenpulver, Grippemittel, Waldverkäufen, einer kleingedruckten Gebrauchsanweisung für Persil sowie einer Affiche für das Schuhputzmittel Congo die einzige wirklich bedeutsame Notiz und damit den ausschlaggebenden Impuls für diese Reise in die Westschweiz erspäht:
Notar F. Bumsel, wieder aus dem Militärdienst zurück.
    Er musste einem Zedel ausweichen, der unvorsichtig nahe am Bürgersteig schlingerte. Diese Marotte, dass nun jeder ein Automobil fahren musste! Reichte es nicht, dasssie das geruhsame Promenieren im schönen Paris verunmöglichten, mussten sie jetzt schon au bout du monde, im hintersten und letzten Krachen der Welt also, die Luft verpesten? François frottierte sich den Staub von seiner Hose, zupfte die Bügelfalte zurecht und schüttelte die Füße einmal links, einmal rechts, so dass er wieder einen ordentlichen, feinen Eindruck machte, ganz Herr von Welt.
    Als er seinen Blick wieder hob, dem Platze zu, der sich vor ihm auftat, erkannte er sie sofort: dieser Arsch. Diese Brüste, die ganze Figur. Wie sie da über die Straße marschierte, ein Kind an jeder Hand. Mauritzias Blick wechselte in Sekundenschnelle von Erstaunen zu einer scheuen Freude, ihre Zähne blitzten kurz auf, und ihre Augen blieben auf François haften, als hätten sie nach Jahren der Ruhelosigkeit endlich ihren Ankerpunkt gefunden. Er erkannte, dass sie noch immer Magd war, das eine Kind, das sommersprossige, flachnasige – ein Junge – trug ein abgestoßenes Gewand, das andere, ein Mädchen mit braunen Zöpfen und bunten Schleifchen im Haar gehörte zweifelsohne irgendeiner Madame, bei der Mauritzia wohl in Diensten stand. Sie starrte ihn noch immer an, zwei Meter vor ihm, der ganze Körper angespannt. Er konnte sie riechen, und sein Herz erinnerte sich an den Geruch von Milch, von Holzkohle und von getragenen Sachen, und mit einem Male spürte François in sich eine Gemütsbewegung, die ihn irgendwie rührte, und außerdem: Eine Schweizerin zu ehelichen wäre vielleicht gar nicht schlecht. Gerade zum jetzigen Zeitpunkt nicht.
    Die Okkasion schlechthin.
    Alles stimmte. Sein Haus an der Kramgasse in Bern, sein Kammwarenhandel, die Expansionspläne, das ganze Zukunftsbild! Und wie wollte er alleine die Verkaufsebene im Parterre, die Stockwerke und obenauf noch die Mansarde bewältigen? Früher oder später würde er ohnehin Personal benötigen, wieso also nicht gleich damit beginnen?
    Er war auf einem Glücksritt, alles, was er anpackte, wurde zu Gold. Und nun war er also gerade noch rechtzeitig in ein Land gekommen, das für sich die Neutralität reklamierte. Die Schweiz, neutraler Kleinstaat, der vielleicht einzig sichere in diesen unsicheren Zeiten. Diese unerwartete Wendung, diese neue Möglichkeit, die sich da vor seinem geistigen Auge eröffnete, ließ ihn beide Arme auseinanderfalten und wie in grenzenloser Verwunderung und menschenmöglicher Überraschung exklamieren: »Mauritzli! Du hier! Welch wunderbare Fügung des Schicksals!«
    Als sie sich abends wiedertrafen, in einem Etablissement zweifelhaften Charakters, mit einer ausgestopften Dachsfamilie, die rechts vom Eingang

Weitere Kostenlose Bücher