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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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Gwalchgwyn Bowen, der überhaupt keine brauchbare Sprache sprach und den alle wegen seines zungenbrecherischen Namens einfach »Eddie« nannten, war ein walisischer Violinist. Wo immer er sein Spiel erlernt hatte, er hätte jedes Duell mit Geige und Bogen für sich entschieden, das stand für Elia außer Zweifel.
    Schlagzeuger war der Jungspund Mihemed Mardan, ein Kurde aus Bagdad, der seinen Schnauzbart immer ganz besonders pflegte und dazu sein sichelförmiges Rasiermesser minutenlang gedankenversunken am Abziehstein schliff. Nach jeder Rasur ölte er die Klinge mit der Zärtlichkeit eines frischgebackenen Vaters, und als ihm der alte brüchige Streichriemen zunehmend Sorgen bereitete, schwatzte er so lange auf Pierrot Lasalle ein, bis Elia das Gejammer nicht mehr hören konnte, ein Machtwort sprach und Pierrot Lasalle ihm endlich seinen Gürtel gab. Für gewöhnlich legte dieser auf solchen Überfahrten ohnehin drei bis fünf Kilo zu, das Essen war wirklich nicht zu verachten, und als Pianist konnte Lasalle zumeist sitzen, brauchte also seinen Hosengürtel nicht, e basta.
    Lasalle verstand kein Italienisch, er sprach Französisch und gebrochen Deutsch. Woher er kam, damit wollte er nie so recht rausrücken, fest stand, dass er Jude war und niemandem je schrieb und auch keine Briefe empfing. Sein einziges Thema war das Piano, sein Anschlag, sein Sofortklang und sein Nachklang, das Raumklima und die Politur.Sein trübes Gesicht ließ keinen Zweifel darüber, dass er Anlässe zur Heiterkeit lieber verschmähte. Die gelegentlichen Rauchpausen, die hingemurmelten Kurzgespräche im Stenostil an Deck waren sein einziges Vergnügen und damit genug. An seinen »schwarzen Tagen«, wie das Ensemble einvernehmlich diejenigen Tage nannte, an denen Pierrot Lasalle von morgens früh bis abends spät im Bette liegen blieb, setzte sich Elia an seiner statt ans Klavier. Das Trinkgeld teilte er, sie alle taten das.
    Sechster und Letzter im Bunde war der krausköpfige Deutsche Klaus Staub, der die Holzblasinstrumente, die Klarinette, Oboe und das Fagott, spielte. Er spielte zwar nicht immer einwandfrei, wie Elia ohne Zurückhaltung bemerkte, dafür mit der Inbrunst eines leidenschaftlich Verliebten, Verlorenen. Im Geiste ging er bereits wieder die nächsten Stücke, seine Einsätze und die Akkorde durch, Elia erkannte das daran, dass er seine Lippen bewegte, als ob zwischen ihnen nicht eine Zigarette, sondern ein Mundstück läge.
    Im Salon wartete man bereits ungeduldig auf ihr Wiedererscheinen. Und als die sechs Musiker ihre Plätze einnahmen, schien es, die Damen und Herren auf ihren Sofas, Sesseln und Sitzen wären grad ebenso stumm und regungslos wie die beiden Reihen Karyatiden, die die Säulen des Salons auf ihren lockigen Häuptern trugen.
    »Uno, due, tre, quattro …« Elia gab den Takt vor, und ein flotter Foxtrott erklang. Schiebtänze waren ganz besonders gefragt, je weiter die Nacht in den Morgen griff. Und Elia und sein Ensemble hatten sie alle im Repertoire: die Kompositionen für den Cakewalk, den Glide-Waltz, Twostep, Onestep, den Castle Walk, und neuerdings spielten sie sogar Ragtime. Ihre Salonkonzerte begannen jedoch zumeist mit Operettentiteln von Franz Lehár, Leo Fall oder Jacques Offenbach. Großer Beliebtheit erfreuten sich nach wie vordie Walzer, bei denen man die Damen tüchtig herumschwenken konnte. Dazwischen fügten sie gerne zum Verschnaufen ein, zwei Glanzstücke aus den Opern von Rossini, Verdi, Gounod oder Puccini ein oder forderten ihr Publikum mit einem Tango heraus. Elia spürte intuitiv, welche Sehnsüchte im Raum vorherrschten, und brachte sie mit seinen Arrangements zum Schwingen. Unter den zwei Dutzend Glaslüstern wirbelten die Röcke, flogen die Haare und glänzten Damenarme in ellbogenlangen Satinhandschuhen …, es erbebte der Boden …, es erwachte die Lust …, es ging ein Pulsschlag vom obersten zum untersten Deck. Und immer dann, wenn die Stimmung am tollsten war, zwinkerten sich die sechs Männer zu und stimmten Zigeunerweisen an. Selten blieb dabei ein Auge trocken, und je bewegter die Gesellschaft war, umso spendabler verschenkte sie ihr Geld.
    Dieses Fernweh war ihnen sonderbarerweise allen gemein. Den Musikern wie den Passagieren, irgendwohin zog ihr Herz sie immer. Eine Unrast, die sie miteinander verband und durch die sie sich ohne Kommentar verstanden. Und ganz besonders im wehklagenden Zauber der sogenannten Zigeunermusik. Dem Zigeunermoll. Das Gerüst der Ungarischen

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