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Die Ruhelosen

Die Ruhelosen

Titel: Die Ruhelosen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Minelli Michele
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Rhapsodien von Franz Liszt, es war gewohntermaßen Ausgangspunkt zu weitschweifigeren, tiefgreifenderen Moll-Eskapaden, und das Sextett spielte, als wollte es diese ganze Salongesellschaft in den Wassern der Wehmut ersäufen.
    Nur, wenn nicht nur die Augen der Damen, sondern auch die ihrer Begleiter feucht wurden, war es ein guter Abend, war Elia mit sich und seinem Kismet zufrieden. Dann packte er müde und erschöpft, aber glücklich, wirklich glücklich, sein Cello ein, streichelte noch ein-, zweimal mit seinen Handschuhen über den Instrumentenkoffer und verabschiedete sich mit einem lächelnden und einemweinenden Auge von seiner Truppe, indem er mit den Fingern kurz seine Hutkrempe antippte. Die letzte Zigarette des Abends genoss Elia regelmäßig alleine, indem er gedankenversunken über die einsamen Decks strich, den Mond und die Sterne betrachtete und sich eines ganz bestimmten Delphins erinnerte, seines ersten Freundes auf See.
    Als sie Rio de Janeiro erreicht hatten, gaben sich die sechs Gefährten auf Zeit die Hand. Sie wussten nicht, wann sich ihre Wege wieder kreuzen würden. Und als Stratis Pogonatos mit Zeitungen in der Luft fuchtelnd auf die anderen zugestürmt kam, wurde ihnen klar, dass es fraglich war, ob sie sich überhaupt je wiedersehen würden. Krieg war das Wort, das keiner laut auszusprechen wagte. Und sein Eintreffen immer gewisser. Am 28. Juni 1914 war ein Attentat auf den österreichischen Thronfolger Franz Ferdinand und seine Frau Sophie verübt worden, bei dem beide ums Leben kamen. Ein Serbe sei es gewesen, hieß es.
    Das alte zurückgelassene Europa war zu einer unübersichtlichen Schlachtplatte von Ländereien, Bündnissen und Vertragsbrüdern geworden, einem kolossalen gordischen Knoten von Seilschaften gleich, den zu entwirren wohl kein Staatsmann mehr in der Lage war.
     
    Wann immer Elia zwischen zwei Kinotheateraufführungen im schattigen Hinterhof Pause machte, las er mit bebenden Lippen, was sein Kopf zu verstehen sich weigerte. Dieses ganze Hin und Her, dieses kindische Wie-du-mir-so-ich-dir! In seiner alten Heimat war ein Rüstungswettlauf sondergleichen am Aufschäumen, wen wollten die damit eigentlich erschrecken, wenn nicht zuallererst sich selbst? Die eigenen Leute klein und in den Schranken halten? Ja, Angst war schon immer ein tüchtiger Zuchtmeister, keiner zuverlässiger als er.
    Ihm war, als ob in seinem alten Europa alles voneinanderwegstrebte wie in einer Zentrifuge, bei der die Kräfte, die an den Rändern wirkten, die stärksten, die kräftigsten und die gefährlichsten waren. Kaum mehr zu überblicken für einen am anderen Rand der Welt. Ihn schauderte.
    All diese hungernden und dürstenden überfressenen Regenten, die die Welt unter sich aufgeteilt hatten, wussten ja selbst bald nicht mehr, wohin ihr wirrer Bündnisreigen führen sollte. Verheerend. Verheerend. Vielleicht war auch das ein Grund gewesen, die meiste Zeit des Jahres über eine Kabine auf dem Ozean sein Zuhause zu nennen.
    Der achtzehnjährige Serbe, Gavrilo Princip, ein halbes Kind mit hängenden Schultern, schmal und mit einem trüben Blick, wie Elia befand, als er sein Bild betrachtete, war also der Verursacher gewesen, der eine kleine Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte, der eine kleine Funke, der eine Explosion auslöste, die weit über alle Meere zu spüren war.
    Elia fieberte nun täglich Meldungen entgegen, die er in den verschiedenen internationalen Zeitungen las, welche er Reisenden im Hafen abschnorrte. Und wie er es vermutet hatte: Trotz intensiver diplomatischer Bemühungen von verschiedenen Seiten lehnte Serbien eine umfassende gerichtliche Untersuchung des Attentates unter Beizug der Staatsorgane der k. u. k. Monarchie ab. Wieso auch nicht? Weshalb sollte schon wieder ein Kleinstaat für ein Verbrechen bezahlen, wenn die Verbrechen der Großreiche um so vieles schwerwiegender, um so viele Jahrzehnte älter waren? Elia wurde von widersprüchlichen Gefühlen überflutet. Er wusste nicht, was er getan oder geglaubt hätte, wäre er zu diesem Zeitpunkt auf europäischem Festland gewesen. Die Distanz zu den Geschehnissen machte aus ihm einen Zweifler, einen Zyniker, er war enttäuscht von diesen Ländern Europas, die sich gegenseitig Messer an die Kehle setzten. Und er konnte nicht begreifen, dass eine Staatsmacht dermaßen unbeweglich, dermaßen dumm sein konnte. ObwohlSerbien auf sämtliche andere Punkte des Ultimatums eingegangen war, waren neunundneunzig Prozent eben doch

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