Die Ruhelosen
es ihn früher oder später nicht doch wieder weitertreiben würde, nach Montevideo oder nach Buenos Aires zum Beispiel. Allerdings wäre auch ein Abstecherweiter nördlich möglich, die Kleinen Antillen wollte er sehen, auf die kolonialisierten Inseln Englands oder Frankreichs seinen Fuß setzen, Guadeloupe zum Beispiel, wo die schwarze und mulattische Bevölkerung ja bereits französisches Wahlrecht besaß.
Elia fühlte sich in Südamerika geradeso zu Hause wie in Fiume oder in Triest. Als er, ein Jüngling noch, das erste Mal in Rio war, hatte er ungefragt sein Cello ausgepackt und musiziert. Er war von Lokal zu Lokal getingelt, hatte gespielt, an Bekanntheit gewonnen und Erfolg gehabt und dabei so viel verdient, dass er – wie er zu Hause in Fiume der Mutter gegenüber gern plagierte – die ganze Copacabana hätte kaufen können. Saisonweise übernahm er Aufträge in Lichtspieltheatern und begleitete das Geschehen auf der Leinwand mit dem Klavier. Georges Méliès’ »Reise zum Mond« fand durch seine Musik zu dramatischen Höhepunkten, und bei Edwin S. Porters »Der große Eisenbahnraub« trieb er dem Publikum Schauer des Entsetzens über die Haut, so virtuos vermochte er diese zwölf Minuten Filmmaterial zu intonieren. Film hieß das neue Wundermittel, um den Leuten das Geld aus den Taschen zu ziehen, Film, und nicht nur die Amerikaner waren groß darin, auch einige Franzosen, und spätestens als Luigi Maggi mit seinem Epos »Die letzten Tage von Pompeji« die Leinwände dieser Welt belebte, gehörte auch ein Italiener dazu. Kolossal, was für Bauten dieser Regisseur erschaffen hatte, um das alte Rom wieder aufleben zu lassen. Elia erinnerten sie an die ewig wiederkehrenden Gespräche seiner Eltern, wie seine Mutter Abelarda über die »Menschen der alten Zeit« parlierte und darüber sinnierte, ob diese sich überhaupt je hätten so lieben können wie sie und Elia Primo. Unangenehm berührt, hatte er sich dazu entschlossen, bei diesem Film keinerlei Sentimentalität durch seine musikalische Begleitung aufkommen zu lassen.
Wie viele Filme Elia so auch vertont hatte, im Dunkeln des Kinosaals gab es nur ihn und sein Instrument, die Besucherinnen und Besucher, Vergnügungssüchtige allesamt, die ihren Kopf mit Unsinn vollstopften, traten für ihn in den Hintergrund, sobald er zum ersten Takt anhob.
Immer legte er seine ganze Fingerfertigkeit in eine solche Komposition hinein, obgleich ihn die Musik selbst wenig interessierte: Sie war ihm nur Mittel zum Zweck. Die einzige Musik, die Elias Herz höher schlagen ließ, war der Klang der weiten offenen See. Selbst das Geld, das er im Lauf der Jahre regelrecht angehäuft und, im Geheimfach seines Instrumentenkastens zuverlässig versteckt, nach Hause und in Fiume auf die Bank getragen hatte, verlockte ihn nicht. Was er dereinst damit anfangen sollte, war ihm völlig nebelhaft. Vielleicht die Geschäfte seines Vaters übernehmen, zumindest den Pianohandel – aber sonst?
Elia hatte Spielpause. Auf dem beplankten Oberdeck steckte er seinen Gefährten der Reihe nach die Zigaretten an. Camel, eine neue Marke, die Elia in Zwanzigerpackungen kaufte. »Worin liegt nur der Sinn, so viele Zigaretten auf einmal zu kaufen? Langt die alte Fünferpackung denn nicht aus?«, war ein Bonmot, das Stratis Pogonatos gerne zum Besten gab, wann immer er eine zweite oder eine dritte Zigarette aus Elias Packung klaubte. Bei seinen Ensemblemitgliedern übte Elia eine unnachahmliche Großzügigkeit, allen anderen Menschen gegenüber pflegte er den Geiz. Zu sechst beugten sie ihre Rücken gegen den Fahrtwind und hielten die Köpfe einander zugewandt, rieben sich die Hände. Die Glut beleuchtete abwechselnd ihre Gesichter. Stratis Pogonatos, der Saxophonist, ein griechischer Jude, hatte seine Heimatstadt Thessaloniki 1908 für immer verlassen, als Enver Pascha mit seiner Jungtürkischen Revolution das Zepter übernahm. Als Kind hatte er das verheerende Feuer vom 4. September 1890 miterlebt, bei dem seine Familieund Tausende weiterer jüdischer Familien Hab und Gut und Obdach verloren hatten. »Und warum, so frage ich euch: fast ausschließlich wir Juden?« Als äußerst friedfertiger Mensch litt er sichtlich mit, selbst wenn eine Motte in eine Kerzenflamme zischte. Stratis wollte sich auf keine Experimente einlassen. »Ganz egal, wie es ausgehen mag: für uns Juden wird es bestimmt nicht besser«, pflegte er zu sagen, und damit war das Thema »Rückkehr« für ihn abschließend behandelt.
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