Die Ruinen von Gorlan
gegenüber befand sich ein von einem dicken Vorhang eingerahmter Durchgang, der zu Sir Rodneys Schlafraum führte – ausgestattet mit dem einfachen Bett eines Soldaten und noch ein paar kleineren Möbelstücken. Die Wohnung war anders eingerichtet gewesen, als Sir Rodneys Frau Antoinette noch lebte, aber sie war vor einigen Jahren gestorben und die Räume hatten mittlerweile eine unverkennbar männliche Note.
»Ich habe es gesehen«, stimmte Sir Karel dem Heeresmeister nun zu. »Ich habe es zwar kaum geglaubt, aber ich habe es gesehen.«
»Dabei habt Ihr es nur einmal gesehen«, sagte Sir Rodney. »Ich habe es vorher schon die ganze Zeit bei ihm beobachtet und bin überzeugt, dass er es völlig unbewusst getan hat.«
»So schnell wie der Schlag, den ich gesehen habe?«, fragte Sir Karel.
Sir Rodney nickte nachdrücklich. »Sogar noch schneller. Er fügte einen zusätzlichen Schlag ein, blieb aber die ganze Zeit im Rhythmus.« Er zögerte, dann sprach er schließlich aus, was sie beide dachten. »Der Junge ist ein Naturtalent.«
Sir Karel neigte nachdenklich den Kopf zur Seite. Allein aufgrund dessen, was er gesehen hatte, konnte er den Jungen noch nicht voll und ganz einschätzen. Zudem waren Naturtalente sehr selten. Sie waren jene einzigartigen Menschen, die in der Kunst des Schwertkampfes eine ganz andere Dimension erreichten. Sie führten nicht nur eine erlernte Fähigkeit aus, sondern hatten einen angeborenen Instinkt, der ihre Reaktionen lenkte.
Sie waren es, die zu Helden wurden. Die Meister des Schwertes. Erfahrene Krieger wie Sir Rodney und Sir Karel waren ausgezeichnete Schwertkämpfer, aber Naturtalente entwickelten den Schwertkampf zu einer regelrechten Kunst. Bei ihnen stellte das Schwert in der Hand nicht nur einen verlängerten Arm dar, sondern war direkter Ausdruck ihrer Persönlichkeit. Bei solchen Menschen existierte eine absolute Harmonie zwischen Körper und Geist, sodass die Reaktion mit dem Schwert sogar schneller als ein bewusster Gedanke war.
Dadurch stellte ihre Ausbildung auch eine schwere Verantwortung dar. Denn diese angeborenen Fähigkeiten und Talente mussten sorgfältig gepflegt und entwickelt werden. Nur so konnte dieses Talent vollkommen ausgeschöpft werden.
»Seid Ihr sicher?«, fragte Karel schließlich, und Rodney nickte erneut, den Blick aus dem Fenster gerichtet. In Gedanken sah er den Jungen immer noch bei der Übung, sah diese reflexhafte blitzschnelle Bewegung.
»Ich bin mir sicher«, antwortete er entschieden. »Wir müssen Wallace Bescheid geben, dass er in ein paar Monaten einen neuen Schüler haben wird.«
Wallace war der Schwertmeister. Er war derjenige, der den Schülern nach der grundlegenden Schulung bei Karel den letzten Schliff gab. Einem besonders talentierten Schüler – wie Horace es offensichtlich war – würde er Privatunterricht in fortgeschrittenen Techniken geben. Karel schob nachdenklich die Lippen vor, während er über Sir Rodneys Vorschlag nachdachte.
»Nicht schon früher?«, fragte er nach. »Warum soll er nicht gleich damit anfangen?«
Sir Rodney schüttelte den Kopf. »Wir hatten noch nicht genug Gelegenheit, seinen Charakter zu beurteilen«, erklärte er. »Er scheint ein netter Kerl zu sein, aber das weiß man ja nie. Wenn er sich als Missgriff herausstellen sollte, möchte ich nicht, dass er bereits die fortgeschrittenen Techniken kennt, die Wallace ihm beibringt. Behalten wir diese Sache also besser für uns – sagt das bitte auch Morton. Ich möchte nicht, dass der Junge irgendetwas davon erfährt. Es könnte ihn hochmütig machen und das wäre gar nicht gut.«
»Das ist wohl wahr«, stimmte Karel ihm zu. Er trank sein Bier in zwei schnellen Zügen aus, setzte den Becher ab und stand auf. »Nun, ich sollte jetzt besser gehen. Ich muss noch Berichte schreiben.«
»Wer muss das nicht?«, erwiderte der Heeresmeister mitfühlend und die beiden alten Freunde tauschten ein vielsagendes Grinsen aus. »Ich hätte nie gedacht, dass es ein regelrechter Papierkrieg ist, wenn man eine Heeresschule führt«, fügte Sir Rodney hinzu.
Sir Karel stieß ein zustimmendes Schnauben aus. »Manchmal denke ich, wir sollten die Waffenübungen vergessen und den Feind einfach unter dem ganzen Papier begraben!«
Aufgrund ihrer langjährigen Freundschaft salutierte er nur salopp, indem er mit einem Finger die Stirn berührte. An der Tür hielt er kurz inne, weil Sir Rodney ihm noch etwas nachrief: »Ihr solltet den Jungen natürlich im Auge
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