Die Runen der Macht - Der verfluchte Prinz (German Edition)
blaffte sie, und ihr Ton strafte ihr großmütterliches Aussehen Lügen. »Wir wurden von Unlebenden angegriffen!«
Es war das eine, was niemand hören wollte – trotz aller Beweise draußen in der Haupthalle. Ein Angriff auf ein heiliges Gebäude des Ordens war seit Jahrhunderten nicht mehr vorgekommen. Nicht in Arkaym, nicht in Delmaire. Mächtige Runen wurden in die Fundamente und Mauern von Klöstern und Abteien gemeißelt und von den Diakonen ständig überarbeitet, damit sie aktiv blieben. Dass sie Schutz boten, war eine noch unumstößlichere Gewissheit gewesen als die Annahme, Geister kämen nicht übers Wasser. Ein gewaltiger Abgrund öffnete sich vor Merrick, als ihm klar wurde, dass die Ausbildung, die er erst kürzlich abgeschlossen hatte, sich als weniger nützlich erwies als angenommen.
»Warum erweisen sich alle meine Abmachungen immer als kompliziert?«, murmelte Raed grimmig.
Priorin Aulis fasste ihn erstmals genauer ins Auge. »Wer ist …?« Sie verstummte kurz. »Raed Rossin!«
Der Prätendent rang die Hände. »Gibt es denn gar keine Anonymität mehr?«
»Auch wir wurden angegriffen.« Merrick stellte sich vor ihn. »Kapitän Rossin hat uns das Leben gerettet, als ein besessenes Meeresungeheuer unser Schiff angegriffen und zerstört hat. Wir sind einen Handel mit ihm eingegangen. Sonst wären wir nie nach Ulrich gekommen.«
Das erwartete Erstaunen der Priorin blieb aus, aber vielleicht hatten die Erfahrungen der letzten Wochen ihre Einstellung zum Unmöglichen gemildert. »Ich verstehe«, sagte sie ungerührt.
Inmitten des heillosen Durcheinanders überlegten die drei Diakone schweigend, was als Nächstes zu tun war. Merrick fragte sich, welchen Sinn das jahrelange Studium gehabt hatte, wenn sämtliche Regeln nichts mehr galten.
Es war Raed, der den Stillstand beendete. »Können wir das woanders diskutieren?« Er deutete mit dem Kopf auf die Diakone ringsum.
Priorin Aulis nickte stumm und führte sie durch die steinernen Korridore tiefer in die Festung hinein, wo es nicht mehr nach Blut und verkohltem Fleisch roch. Ihre Gemächer im zweiten Stock waren klein und bescheiden und gingen auf den windgepeitschten Burghof hinaus. Merrick öffnete unaufgefordert sein Zentrum, um zu sehen, ob eine Bedrohung in der Nähe war.
Durch diese doppelte Sicht dehnte er seine Wahrnehmung möglichst weit aus. Die drei Menschen mit ihm im Raum, das hektische Gedränge im Spital, der Umriss des verwachsenen Laienbruders mit den Pferden draußen im Stall, selbst die Hühner im Hof, all das nahm er sofort deutlich wahr – aber keine Spur von Unlebenden. Er zweifelte immer mehr an seinen Fähigkeiten, doch seine Suche bestätigte die eine beunruhigende Tatsache, die er bereits vermutet hatte.
»Ihr habt wirklich keine Sensiblen mehr im Kloster.«
Aulis faltete die Hände, und die Anspannung war ihr an den Schultern anzusehen. »Sie waren das erste Ziel dieses Angriffs.«
»Erzählt von Anfang an.« Sorcha stellte sich fast so neben Merrick ans Fenster, als unterstützte sie ihn.
»Erst waren es nur kleine Angriffe«, sagte die Priorin und rieb sich erschöpft über den Mund, ehe sie fortfuhr. »Schatten auf dem Friedhof; Vieh, das vor Schreck keine Milch mehr gab.«
»Alles geringfügige Zwischenfälle.« Merrick nickte und hatte das Gefühl, er sollte zumindest Notizen machen, aber Sorcha hielt die Arme verschränkt, und er konnte nicht richtig schreiben, solange er sein Zentrum benutzte. Er wusste, was in diesem Moment wichtiger war.
»Es wurden immer mehr, bis sie uns überschwemmten und wir der Mutterabtei eine Nachricht mit der Bitte um Hilfe schickten.« Sie öffnete eine Schublade und holte ein Bündel Papiere aus dem Schreibtisch. »Lest einige Berichte, wenn Ihr wollt.«
Sorcha griff stattdessen in ihre Tasche und zog eine Zigarre heraus. Sie war höflich genug, sie nicht anzuzünden, schien aber schon dadurch eine gewisse Ruhe zu erlangen, dass sie sie zwischen den Fingern spielen ließ. »Wichtiger ist wohl, was nach dem Versenden der Wehrsteinnachricht geschah.«
Die Lippen der Priorin wurden schmal, und ihr Stirnrunzeln vertiefte sich.
»Die Stadtbewohner haben das Vertrauen in Euch verloren.« Raed nahm Platz und warf Sorcha einen scharfen Blick zu. »Sie mussten schließlich enttäuscht gewesen sein, als ihre Beschützer der Aufgabe nicht gewachsen waren.«
Aulis erhob sich halb vom Stuhl, und ihr Gesicht glühte unter ihrem grauen Haarschopf. »Sie haben nicht nur das Vertrauen
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