Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
spürte jetzt, dass sie wieder anstieg. Welche Pause er in diesen letzten Monaten auch genossen haben mochte, sie war vorbei – und es hätte zu keinem schlechteren Zeitpunkt geschehen können –, aber er würde auf gar keinen Fall umkehren. Fraine musste gefunden werden. Er konnte nur hoffen, dass der Rossin weiter schlafen und brav sein würde.
Kapitel 7
Gefallene Träume
In der Dunkelheit der dritten Nacht ihrer Reise erwachte Merrick. Das Kaiserliche Luftschiff war so still, wie etwas aus Holz und Seide nur sein konnte. Es knarrte leise wie ein Schiff, aber ohne das beruhigende Klatschen der Wellen an die Bordwände – eine stete Erinnerung daran, dass sie Hunderte von Meilen über festen Boden flogen.
Kurz lag er da und schaute in die Holzkonstruktion hinauf. Nur wenige Schritte entfernt schlief Sorcha und gab ein leises Knurren von sich, das er nicht als Schnarchen zu bezeichnen gewagt hätte. Normalerweise wäre einem Diakon die Annehmlichkeit einer Kabine gewährt worden, aber die chiomesische Delegation hatte Vorrang, und er und Sorcha waren erheblich bequemer im leeren Frachtraum für die Pferde untergebracht. Sie hätten beide gern ihre Tiere Melochi und Shedryi dabeigehabt – die wären in Nächten wie dieser zumindest ein Trost gewesen.
»Besser man hält uns für ehrliche Pferde als für Diplomaten«, hatte Sorchas nur gemeint und ihr Bettzeug ausgebreitet.
In drei oder vier Tagen würden sie Orinthal erreichen. Das hätte aufregend für Merrick sein sollen, da er seit seiner Kindheit von einer Reise ins Herz von Chioma geträumt hatte, doch er konnte das Gefühl drohenden Unheils nicht abschütteln.
Dass Sorcha, Raed und er manipuliert worden waren, so dass sie beinahe die Zerstörung Vermillions verursacht hätten, machte ihm immer noch zu schaffen. Ein Sensibler sollte klar sehen können; wenn schon nicht alles, so doch zumindest das, was mit ihm geschah.
Merrick warf einen Blick nach rechts. Sorcha lag zusammengerollt auf der Seite. Ihr langes, rotes Haar verbarg ihr Gesicht fast ganz. Obwohl sie die Ältere war, war es seine Pflicht, auf sie aufzupassen.
Also schlug er seine Wolldecke zurück und stand auf, den Riemen in einer Hand. Auf dem schwankenden Deck konnte Merrick durchatmen. Das Luftschiff glitt unter einem reifen Jägermond dahin, der nichts Gutes verhieß – falls man an solche Dinge glaubte. Seine Mutter hatte nie aufgehört, an die kleinen Götter zu glauben, und er hatte diesen Aberglauben, den er auf ihrem Schoß kennengelernt hatte, nur schwer abschütteln können. Der Jägermond gab nächtlichen Pirschjägern das beste Licht – daher sein Name. Nach dem Bruch stellte sich heraus, dass die Geister bevorzugt bei Jägermond erschienen.
Hier oben in der Luft waren sie vor Geistaktivitäten sicher – so dachte man. Als Merrick auf die Landschaft hinabsah, fragte er sich, wie es den Menschen dort unten ergehen mochte, aber er hatte sich nicht nur in die kalte Nacht hinausgewagt, um dunkle Gedanken zu denken.
Es war schwer, auf dem betriebsamen Deck ein Fleckchen zu finden, wo er niemandem im Weg war, aber schließlich entdeckte er hinter den Hauptkabinen eine Kiste, die zum üppigen Gepäck der Delegation gehörte. Merrick setzte sich im Schneidersitz darauf und nahm den Riemen heraus.
Das lange, dicke Lederstück war mit den Sieben Runen der Sicht verziert. Seine Herstellung war seine letzte Leistung gewesen, bevor er Diakon geworden war. Die Runen fühlten sich etwas warm an.
Merrick zog sich den Riemen über die Augen, verknotete ihn hinter dem Kopf, schloss die Augen und öffnete sein Zentrum. Es war der ruhige Ort aller Diakone: ihr Sitz der Macht, wo alles verging und nur Wissen zählte. Zumindest erlebten es die Sensiblen so.
Masa, die Dritte Rune der Sicht, war immer heikel in der Anwendung. Der Blick in die Zukunft war ungenau. Was er auch aus ihr herausbekommen würde: Es wäre weniger genau oder klar als das, was jemand mit einem wilden, angeborenen Talent oder gar die Möglichkeitsmatrix sehen konnte. Dieses verdammte Gerät, das ihren Feinden Voraussicht beschert hatte, war zerstört – er war erleichtert darüber, hätte seine Vorausschau in diesem Moment allerdings gut gebrauchen können.
Merricks Zentrum flog nach vorn wie ein Pfeil. Er sah die Bienenkorbstadt, obwohl er sie nur aus Bilderbüchern kannte, sodass sie undeutlich in den Winden seines Geistes flatterte. Darüber leuchteten die Sterne in einem Teppich der Schönheit, glänzender und
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