Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
Verschwinden bringen würden. Sie verabschiedeten sich von Yohari, und Sorcha stieß einen langen Seufzer der Erleichterung aus.
Sie standen auf dem stillen Flur, während Laienbrüder ringsum Kerzen gegen die nahende Nacht anzündeten. Trotzdem konnte Merrick Sorchas dunkle Augenringe erkennen. »Legt Euch etwas schlafen.«
Sie zog bei seinem beinahe befehlenden Ton eine Braue hoch. »Ich hoffe, Ihr werdet nicht zur Glucke. Denkt daran, ich bin alt genug, um Eure Mutter zu sein.«
Er lachte. »So alt seid Ihr nun auch wieder nicht.« Er kicherte etwas gezwungen in sich hinein. »Ich denke nur, wir müssen morgen ausgeruht sein.«
Selbst Sorcha, die auf Streit aus war, konnte dagegen nichts sagen. Sie ließ die Schultern kreisen und schloss für einen Moment die Augen. »Ein kühles Bad und eine warme Zigarre wären wunderbar. Seid Ihr wirklich entschlossen, in der Bibliothek zu stöbern?« Er grinste, und sie seufzte theatralisch. »Ich sehe schon, Ihr seid es.«
»Ich habe auf der
Sommerhabicht
geschlafen«, log er und wusste, dass sie ihm dank ihrer ungewöhnlichen Verbindung ohnehin nicht glauben würde. Es war ein kleines Spiel, das sie spielten.
Sorcha schlug ihm auf die Schulter und zog sich leise murmelnd zurück.
In der Abtei herrschte Stille, aber das war Merrick nur recht. Er brannte darauf, die Bestände der Bibliothek zu sehen. Nachdem er ein paarmal falsch abgebogen war, fand er sie.
Sie war größer als erwartet und voller Bücher, Schriftrollen und Manuskripte, die sein Herz höher schlagen ließen. Er hoffte, hier etwas zu finden, das die Schattenwolke erklärte, doch außerdem hegte er – seinem Gelehrteninstinkt folgend – den Wunsch, einfach in diesen Reichtum einzutauchen.
Die Sonne versank hinterm Horizont, und Merrick erforschte noch immer die Regale. Er wusste, dass er, wenn er aus dem Fenster in die Berge schauen würde, die Inspiration bekäme, die er brauchte. Doch die Bibliothek erwies sich als Enttäuschung. Die meisten Werke handelten von Hatipai, und selbst er konnte nur ein begrenztes Maß an Verehrung für eine Göttin ertragen.
Schließlich sank Merrick an dem großen Tisch in der Mitte des Raums zusammen und gab sich geschlagen. Den Kopf in die Hände gestützt, überwältigte ihn allmählich die Erschöpfung; die langen Stunden der Reise forderten nun doch ihren Tribut.
Er wollte sich gerade taumelnd erheben und ein Plätzchen zum Schlafen suchen, als ihn ein seltsames Geräusch innehalten ließ. Es klang wie ein unheimlicher Laut aus einer chiomesischen Nasenflöte – die Art von vibrierendem Klang, der ihn als Kind in Mutters Arme hatte flüchten lassen. Das Geräusch erfüllte die langen Regalreihen mit einer tonlosen Vibration, die er in den Knochen spüren konnte.
Dann begann das Flüstern. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken, als stimmlose menschliche Laute durch die Bibliothek hallten. Er war sich sicher, dass sie Worte enthielten, aber so angestrengt er auch lauschte, er konnte keine verstehen. Also tat er, was ein ausgebildeter Sensibler immer tun würde; Merrick schloss die Augen und sandte sein Zentrum aus.
Sein Bewusstsein breitete sich über das ganze Gebäude aus. Er konnte jeden Diakon in der Abtei zählen und jedes Tier. Schwalben nisteten unterm Dach, eine Kolonie Ameisen erntete im Garten Blätter, und hundert winzige Bewusstseinsspitzen in seiner Sicht zeigten, wo Regenwürmer tief in der Erde gruben und nach der letzten Feuchtigkeit suchten. All diese kleinen Dinge konnte er spüren, doch abgesehen von ihm selbst und einer verirrten Biene, die immer wieder gegen das Fenster schlug, war in der Bibliothek nichts. Nirgendwo im Raum gab es eine Spur der Anderwelt.
Merrick sagte sich das selbst, doch die unheilvollen Laute, die ihn umgaben, hörten nicht auf. Sie wurden leiser, schienen durch die Bücherstapel zu dringen, in den Ecken herumzurollen und gestärkt zurückzukommen.
Völlig verwirrt trat er einen Schritt zurück und schlug gegen den Tisch. Während seines Ordenslebens hatte er sich stets auf seine Sicht verlassen können – sie war die eine Konstante. Und mehr noch, er war der Beste, das hatten ihm seine Lehrer gesagt. Deswegen hatte man ihn zum Partner von Sorcha Faris gemacht. Es war das, worauf er sich verließ.
Seine Kindheit war zerstört worden. Der Anblick seines Vaters, der von einem furchteinflößenden, immer noch unidentifizierten Geist auf der Treppe ihrer Burg getötet wurde, hatte einen Schatten auf jede
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