Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
bewusst war.
Während sie durch die Palastflure gingen und sich dem Thronsaal näherten, roch Sorcha allmählich den kräftigen Duft von Weihrauch – er war schön und exotisch.
Sie erreichten den Warteraum unmittelbar vor dem Thronsaal, wo sich Menschenmengen drängten. Es waren keine Aristokraten, sondern Leute aus dem gemeinen Volk: Händler, Büßer, Verzweifelte und solche, die einen Aufstieg anstrebten. Frauen mit ebenholzfarbenen Augen plauderten in Ecken und beobachteten sie vorsichtig. Sorcha hatte plötzlich wirklich das Gefühl, zu schäbig gekleidet zu sein, und begriff, dass Bandele recht gehabt hatte: Sie und Merrick waren tatsächlich unscheinbar. Das Feuerwerk an glühenden Purpurtönen, kräftigen Rottönen und erstaunlichen Orangeschattierungen war beinahe blendend. Sorcha hatte nie zuvor Grund gehabt, eifersüchtig auf das Kleid einer anderen Frau zu sein, aber hier fühlte sie sich gehemmt.
Während sie die Nachhut der Prozession bildeten und verstohlen die wartende Menschenmenge betrachteten, baute sich ein seltsames Gefühl in der Diakonin auf. Es war so warm und tief in ihrem Inneren, dass sie angesichts seiner primitiven Natur für eine Sekunde fast peinlich berührt war. Sorcha wagte nicht, es zu zeigen, aber die seltsame Reaktion ihres Körpers verwirrte sie.
Sie schaute zu Merrick, um ihn zu fragen, ob er es ebenfalls spürte und ihr als Sensibler vielleicht zu etwas Einblick verhelfen könnte. Stattdessen gewahrte sie hinter ihm das Gesicht, das sie gesucht, hier aber nicht zu finden erwartet hatte.
Bandele, der von alledem nichts mitbekam, schritt weiter auf die Türen zu, während beide Diakone wie angewurzelt stehen blieben.
Sorcha vergaß zu atmen. Die Welt verengte sich, bis nur noch sie drei existierten: Sorcha, Merrick – und Raed, der Junge Prätendent und Dritte in ihrer Verbindung. Sie konnte die Augen gar nicht weit genug öffnen, um ihn zu betrachten. Plötzlich waren all ihre Sorgen und Bedenken bedeutungslos.
Er trug weite, leuchtende Kleidung und das traditionelle chiomesische Kopftuch. Sein Gesicht war also teilweise verdeckt, aber sie hätte ihn überall erkannt. Raed unterhielt sich jedoch mit einem hochgewachsenen jungen Mann und bemerkte sie nicht. Er erschien ihr so unwirklich, dass sie stocksteif dastand, ihn betrachtete und spürte, wie ein absurdes Lächeln auf ihre Lippen trat. Sie machte einen halben Schritt auf ihn zu und öffnete den Mund, um seinen Namen zu sagen.
Wartet, Sorcha!
Die Worte in ihrem Kopf waren wie ein Schlag ins Gesicht, und schon griff Merrick sie so eisern am Arm, als wäre sie ein kleines Kind, das sich Raed an den Hals werfen wollte.
Auch wenn er ihre Verbindung nicht spüren konnte, so hörte der Junge Prätendent sie doch nach Luft schnappen. Er drehte sich um und sah sie beide. Die Verbindung loderte auf und setzte einen Rausch von Gefühlen frei, die sie beinahe umwarfen. Jede Erinnerung, jedes Gefühl aus ihrer gemeinsamen Zeit stürmte auf sie ein. Sorcha hatte versucht, nicht daran zu denken, hatte versucht, die Macht ihrer Gefühle zu leugnen – doch gegen diesen neuen Ansturm kam sie nicht an.
Raeds haselnussbraune Augen hielten ihren Blick fest. Sie bemerkte, dass er die Fäuste ballte, bemerkte das Zittern in seinem Körper, als müsste auch er sich beherrschen.
So viele Menschen standen um sie herum, plauderten, stritten oder waren versunken in ihrer eigenen Welt. Sorcha wurde klar, dass sie nicht einfach hinübergehen und sich in Raeds Arme werfen konnte. Sie befanden sich am Hof eines ausländischen Prinzen, wo sie überall beobachtet wurden. Sie wusste sehr gut, wie ein Bericht über eine Diakonin lauten würde, die sich in Orinthal einem Mann an den Hals geworfen hatte. Es könnte sogar noch schlimmer sein, wenn sie Aufmerksamkeit auf die Tatsache lenkte, dass dieser Mann der Junge Prätendent war.
Diakonin Sorcha Faris empfand eine lähmende Unentschlossenheit. Sie hatte ihm so viel zu sagen, wagte aber nicht, es auszusprechen.
»Geehrte Diakone?« Bandele war am Gedränge vorbeigerauscht und stand nun mit gerunzelter Stirn vor den massiven Zederntüren. Die chiomesische Wache mit ihren geschulterten Gewehren und den prächtigen, gefiederten Kopfbedeckungen wartete darauf, sie anzukündigen. Langsam drehten sich die Köpfe der Menschen im Flur zu den reglosen Diakonen um.
»Geht«, flüsterte Merrick mit gepresster Stimme. Als sie sich nicht rührte, zischte er noch einmal: »Geht weiter, Sorcha!«
Bei den
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