Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
Ort zum Zuschlagen war. Angriffe geschahen meist bei Sonnenuntergang oder Sonnenaufgang. Strände und Sümpfe, die Zwischenorte, waren am gefährlichsten. Der Moment zwischen Schlafen und Wachen war bei Poltergeistern ebenfalls sehr beliebt, um von einem Menschen Besitz zu ergreifen.
Raed drehte sich zu Sorcha um, und in seinen Zügen standen gleichermaßen Zorn und Ärger. »Was soll ich sagen? Beim Blut – was haben sie ihr angetan?«
»Ich denke, unser Kanzler ist gar nicht tot – aber er hat dieses arme Mädchen ganz sicher für etwas … Böses benutzt.«
»Aber was soll ich ihr sagen?«
Es war schrecklich, doch sie konnten sich nur auf das stützen, was das Mädchen in ihren letzten Augenblicken gesehen hatte. Ihr die Wahrheit über ihren Zustand zu sagen, würde jede Chance zerstören, mehr zu erfahren.
Als Sorcha ihm die Worte ins Ohr flüsterte, die er benutzen musste, sah der Junge Prätendent sie entsetzt an. Nach einem Moment nickte er entschieden, denn wenn sie diese Chance verloren, würde seine Schwester vielleicht ebenfalls verloren sein.
Also seufzte er, räusperte sich und sah dem armen Mädchen ins Gesicht. Sorcha war an die Formen gewöhnt, die ein Geist annehmen konnte, aber Schatten waren am heikelsten, weil sie Spiegelbilder von Toten waren.
»Du kannst dein Geld bekommen und nach Hause gehen«, sagte Raed in strengem Befehlston. »Aber erst musst du uns von den Leuten erzählen, die dich hierhergebracht haben.«
Die leeren Augen des Mädchens huschten hin und her. »Die Wachen haben mich zum Palast geleitet – ich war noch nie hier gewesen. Da war eine Dame, sie hat dort gestanden.« Sie zeigte auf die Stelle am Fenster. »Sie trug einen schönen goldenen Umhang.«
Das arme Kind aus den Elendsvierteln musste von einer Haremsdame geblendet gewesen sein – der Goldstoff war das Zeichen der Gefährtinnen des Prinzen.
»Die Dame sagte, ich gefalle ihr – meine Reinheit sei in ihren Augen ein Segen.«
»Immer die Reinheit«, murmelte Sorcha leise, »bis zu dem Moment, da sie die Unschuldigen opfern.«
Aus dem Augenwinkel nahm sie ein Flattern der Vorhänge wahr, und plötzlich fiel die Raumtemperatur. Der Atem der beiden Menschen wölkte nun vor ihnen auf, ein noch schlechteres Zeichen.
»Kannst du die Dame beschreiben?« Raeds Worte überschlugen sich. »Schnell, Schätzchen. Ich werde dir diese Münze geben.«
Die Gestalt des Mädchens flackerte, und der Wind vom Fenster zerrte an den Rändern der Erscheinung. Sorcha ging hinüber und schloss mit einiger Mühe die Läden.
Die Stimme des armen Opferschattens war nur noch ein schwaches Flüstern. »Sie war verschleiert – aber sie hatte wunderschöne blaue Augen.«
Blaue Augen waren in Chioma höchst ungewöhnlich. Sorcha hatte jedoch nicht genug Zeit, sich siegreich zu fühlen, denn plötzlich verdunkelte sich ihr Zentrum. Sie schrie auf und war für eine Sekunde vollkommen blind.
Etwas raste durch den Äther auf sie zu wie ein angreifender Stier. Instinktiv schob sie Raed wieder hinter sich. Obwohl sie fast vollkommen blind war, sagte ihr die Ausbildung zur Diakonin, dass es nur eine Art Geist gab, der sich so aggressiv bewegte. Ein Ghast.
Eine glänzende Reihe ätherischer Reißzähne, der Gestank von Schwefel und eine Welle der Übelkeit bestätigten Sorchas Vermutung. Doch nicht die Menschen waren das Ziel des Angriffs.
Das Mädchen schrie, schrie lauter als bei seiner Ermordung. Es streckte die schattenhaften Hände nach Raed aus, nach demjenigen, der ihr das Einzige versprochen hatte, was sie wollte.
Er trat vor, als wäre sie ein sterbliches Geschöpf, als könnte er etwas tun, um zu helfen. Der Rossin in ihm wand sich – aufgebracht wegen der Gefahr für seinen Wirt.
Sorcha packte den Jungen Prätendenten am Kragen und riss ihn zurück; er durfte dem Schatten nicht folgen. Sie reagierte so schnell, dass er stolperte und gegen den Schreibtisch fiel, während sie bereits Yevahs Feuer von ihren Handschuhen auflodern ließ. Die Schutzrune baute sich mit einem Brüllen wie ein Flammenmeer vor ihnen auf.
Der Raum wirkte durch den Schild verzerrt, aber man konnte darin trotzdem noch die letzten Schreie des Mädchenschattens sehen. Im Feuer waren die Umrisse des Ghasts zu erkennen, der die dunklen Augäpfel auf die Diakonin geheftet hatte, bevor er wieder im Äther verschwand.
Für einen langen Moment standen sie im Schutze von Yevah keuchend da. Merrick, bei den Knochen, sie vermisste Merrick.
Schließlich und mit
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