Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
»Aber es ist viele Jahre her, seit ich die Freude hatte, der Göttin in einem Tempel zu huldigen – ich wünsche, Ihrer Gegenwart sofort teilhaftig zu werden.«
Jetzt schien der leuchtende Wehrstein sich unter den Füßen des Mannes zu befinden, denn er wirbelte herum und bedeutete ihr, ihm zu folgen. Ihre sechs Kaisergardisten nahmen sie in ihre Mitte.
»Kaiserliche Hoheit«, flüsterte ihr Ylo – ihr Leibwächter, seit sie zehn Jahre alt war – scharf ins Ohr, »ist das klug? Hinaus in die Straßen mit so wenigen zu Eurem Schutz?«
Auch er verstand nicht. Nichts konnte ihr hier im Land ihrer Göttin etwas anhaben. Also hob sie die Hand, und er zumindest kannte diese Geste. Sofort nahm er Haltung an und folgte ihr ohne eine weitere Bemerkung.
Dies waren die Stadt und das Land, wo ihre Göttin noch immer verehrt wurde. Das einzige Land, in dem Glaube noch einen Platz hatte. Natürlich wurden noch andere Götter im Reich verehrt, aber hauptsächlich in ruhigen, ländlichen Gegenden von einfachen Leuten, die ihre Altäre neben dem Herd hatten und kleine Opfergaben darbrachten, wenn sie es konnten.
Während sich die Prozession durch die exotisch duftenden Straßen der Stadt bewegte, beschleunigte Zofiya den Schritt, bis sie dem Beamten beinahe in die Hacken trat. Überrascht wandte er den Kopf um. »Die Strahlende Dame ruft, nicht wahr, Kaiserliche Hoheit?«
Er konnte unmöglich wissen, dass dies tatsächlich der Wahrheit entsprach, aber er meinte es gut. Also lächelte sie und nickte. »Es ist sehr, sehr lange her, seit ich in einem ihrer Tempel stand – das war im Herrschaftsgebiet meines Vaters.«
»Vergebt mir, Kaiserliche Hoheit« – der Anflug eines aufrichtigen Interesses siegte über seine beinahe komische Unterwürfigkeit – »aber wird die Strahlende Dame dort weithin verehrt?«
Eine vorbeiziehende Kamelkarawane hatte offensichtlich keinen Respekt vor hohem Rang, und für einige Minuten mussten Zofiyas Leibwächter die stinkenden Viecher zurückdrängen. Sie tauschten Beleidigungen und Drohungen mit dem Besitzer, bis der merkte, mit wem er es zu tun hatte, und seine Tiere nach bestem Vermögen aus dem Weg der Großherzogin drängte.
Endlich, als sie an ihnen vorbei waren, erwiderte sie: »Es gibt nur sehr wenige Tempel, die ihr geweiht sind.« Diese Worte trafen den Beamten hart.
Sie würde niemandem von den Ereignissen des Tages erzählen, die sie zum ersten Mal zum Tempel der Strahlenden getrieben hatten. Die Erinnerung an den blinden Zorn ihres Vaters, als er sie zum dritten Mal beim Nahkampftraining mit ihrem Leibwächter erwischt hatte, hatte sich tief in ihre Seele eingegraben. Er hatte eine weitere Prinzessin gewollt, die er verheiraten konnte, um sein Königreich zu sichern – keine, die so versessen darauf war, ihren eigenen Weg zu wählen.
Im Tempel der Hatipai hatte die junge Zofiya die Stärke gefunden, ihrem Herzen zu folgen. Wie sich herausstellte, hatte selbst der König von Delmaire sie irgendwann aufgegeben und schließlich erklärt, er habe einen Überschuss an Töchtern und sie solle sich nützlich machen und ihren Bruder bei seinem unglücklichen Aufstieg zur Herrschaft über Arkaym beschützen.
All dieses Glück verdankte sie Hatipai, und jetzt, da Kaleva seinen Thron gefestigt hatte, war es an der Zeit, die Stärke zurückzuzahlen, die sie zu Füßen der Göttin gefunden hatte.
»Da ist sie.« Der Beamte hob den Arm und deutete auf den leichten Anstieg der Straße zum Tempel, als hätte er persönlich das prächtige rote Gebäude aus dem Nichts heraufbeschworen.
Die Fassade war mit meisterlichen Schnitzereien verziert. Gewaltige Friese des täglichen Lebens von Chioma zogen sich außen rings um den Tempel. Der ganze Handel und die Reichtümer des Königreichs wurden hier dargestellt; vom kleinsten Kaufmann bis zum höchsten Adligen waren alle Teil der Pracht. Doch jeder Einzelne kletterte bußfertig die Mauern bis zum krönenden Abschluss des Gebäudes empor. Die Göttin lag der Länge nach auf ihrem Tempel und nahm das gesamte Dach ein. Sie lag auf der Seite, den prächtigen Kopf in die Hand gestützt. Ihre ausgebreiteten Flügel dienten unter ihr als Dach für das Gebäude.
Zofiya hatte nie etwas so Komplexes oder Detailliertes gesehen – noch nicht einmal in Delmaire –, und es ließ sie buchstäblich stehen bleiben und einen überraschten Ausruf unterdrücken.
»Würdet Ihr …« Sie hielt inne und räusperte sich. »Verzeihung, wie war noch gleich Euer
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