Die Saat der Finsternis (German Edition)
hoher Stimme, und marschierte dann den Hügel hoch, an dessen Fuß sie angehalten hatten, in Steinwurfweite zu einem See, wo sie die Pferde tränken konnten. Dort oben wuchsen Fichten und Laubbäume, es würde wohl wirklich nicht lange dauern, um ein wenig Feuerholz zu sammeln. Kirian führte die Pferde zum Wasser, blickte dabei aber immer wieder den Abhang hinauf. Lys war außer Sicht verschwunden. Das hätte Kirian keinen Moment lang beunruhigt, Lys konnte ja nun wirklich selbst auf sich aufpassen. Dieses merkwürdige Lächeln von vorhin allerdings … So etwas hatte er noch nie bei ihm gesehen. Oder vielleicht doch? Etwas Ähnliches zumindest?
Es wurde rasch dunkel und kalt, der Himmel drohte mit Regen.
„Da wünscht man sich fast den Schnee zurück“, brummte Kirian und begann, die Pferde abzureiben. Nicht lange allerdings, und er ließ fluchend alles fallen, was er in den Händen hielt und eilte den Hügel hinauf. Es war nichts zu hören, Lys war auch noch nicht lange genug fort, um sich Sorgen zu machen. Trotzdem rannte Kirian, so schnell er konnte. Kurz vor dem Tunneleinsturz hatte Lys ihn auf ähnliche Weise angesehen, mit einer friedlichen Heiterkeit, die bedeutete: Sorg dich nicht, alles ist gut. Ich freue mich auf den Tod, er ist eine Erlösung.
„Lys?“, brüllte Kirian außer sich, als er oben auf dem Hügel angekommen war. Um ihn herum waren Bäume, nichts als Bäume, und in dem schwachen Licht konnte er keine Spuren finden. Schwer atmend zwang er sich zur Ruhe, er musste sich entscheiden, in welche Richtung er jetzt lief. Da hörte er plötzlich etwas, leise nur, einen fernen Ruf. Hektisch lief Kirian weiter, einen weiteren Steilhang hinauf – und wäre abgestürzt, hätte ihn Lys Warnung nicht aufgehalten:
„Achtung!“
Im allerletzten Augenblick konnte Kirian sich abfangen. In dem Dämmerlicht hatte er übersehen, dass der Hang unvermittelt endete, als hätte ein Riese mit dem Schwert ausgeholt. Bäume wuchsen dicht an seinem Rand, ihre Wurzeln lagen auf der Abgrundseite größtenteils frei. An einer dieser Wurzeln, etwas mehr als eine Armlänge von Kirian entfernt, klammerte Lys sich fest. Unter ihm ging es gewiss dreißig, vierzig Schritt in die Tiefe. Einen Absturz konnte niemand überleben.
„Halt dich fest!“, schrie Kirian überflüssigerweise und riss an seinem Gürtel. Lys versuchte sich aus eigener Kraft hochzuziehen, fand jedoch keinen Halt mit den Füßen; immer wieder brach die Erde unter ihm weg.
„Ich hab es nicht gesehen!“, rief Lys japsend, „nicht gesehen … Konnte mich … nicht mehr abfangen …“ Die Angst in seinen Augen brachte Kirian soweit, dass er zumindest zu klarem Verstand kommen konnte. Lys wollte nicht sterben. Das war alles, was im Moment zählte.
Er kniete nieder, suchte sicheren Halt an einer Baumwurzel und warf das freie Ende seines Gürtels zu Lys hinab.
„Du musst zugreifen!“, sagte er mit einer Ruhe, die er nicht fühlte. Lys blieb tatenlos an seiner Wurzel hängen. Kirian hörte, wie er keuchte, er sah den Schweiß, der Lys bereits vor Anstrengung aus den Haaren tropfte, das Zittern der Arme, die ihn nicht mehr lange würden halten können. Ihm wurde klar, dass Lys, selbst wenn er es wollte, nicht mit einer Hand loslassen konnte, ohne abzustürzen.
Fieberhaft blickte er nach unten, fand nichts, was ihm helfen könnte. Da zog er den Gürtel hoch, fesselte damit sein linkes Handgelenk um die dickste Baumwurzel, die er finden konnte, wickelte den Gürtel einmal um seine Hand und rutschte dann über die Abbruchkante.
„Kirian!“, schrie Lys erschrocken, „du bist …“
„Ruhig!“, fauchte Kirian, schlang einen Arm um Lys’ Hüfte und stützte ihn ab. Das Leder schnitt in sein Handgelenk, und das doppelte Gewicht, das er nun mit einem Arm tragen musste, würde er nicht lange aushalten. Stöhnend vor Schmerz und Überanstrengung versuchte er Lys nach oben zu ziehen, der nun die verkrampften Hände löste und tastend hochgriff, bis er eine andere Luftwurzel zu fassen bekam. Mit vereinter Kraft schaffte es Lys, sich in Sicherheit zu bringen. Er beugte sich sofort hinab, wohl um ihm zu helfen.
„Weg!“, befahl Kirian knapp, holte Schwung, erreichte mit der rechten Hand die rettende Wurzel, vollführte mühsam einen Klimmzug und kletterte dann über die Kante.
„Das konnte ich schon mal besser, ich werde alt“, murmelte er schnaufend, und blieb neben Lys am Boden liegen, wo sie beide erst einmal zu Atem kommen mussten.
„Wir
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