Die Sache mit dem Ich
vorstellte, wo die ganzen Grunge-Bands hergekommen waren. Auf einmal war es nicht mehr unangenehm, Musik mit deutschen Texten zu hören; im Gegenteil: Auf einmal gab es nichts Passenderes. »Zeittotschläger auf ihren Wegen, heute Nacht gehöre ich zu ihnen«, diese Zeile von Blumfeld war in unseren Köpfen, wenn wir durch die Straßen liefen. Gefühle, die wir vorher nur auf Englisch empfunden hatten, klangen nun auch in unserer eigenen Sprache.
Der Irrsinn war, dass das, was in der Musik passierte, auch woanders in Deutschland geschah: Auf einmal gab es Fotos, die man sich anschauen konnte (Tillmans, Teller, Fengel, die sogenannte Neue Deutsche Fotografie), Bücher, die man lesen konnte (Kracht, Goetz, Stuckrad-Barre, die sogenannte Popliteratur), es gab Magazine, die sich an einer neuen Sprache versuchten (»Tempo«, » SZ – Magazin«, »Jetzt«), und in München und Berlin entwickelten die Raver eine neue, fast sportliche Art des Dauerfeierns mit einer exquisiten neuen Droge (Ecstasy).
Nur ein paar Jahre vorher war noch alles anders gewesen in Deutschland: Da hatte man vor allem Kulturschrott und schlecht sitzende Jacketts gesehen, wenn man sich einmal um die eigene Achse gedreht oder die »Tagesthemen« angeschaut hatte. Hässlichkeit und Provinzgeruch überall; kein Land, so schien es, war weiter von der Moderne entfernt als die Bundesrepublik. Deutschland war ein Kartoffel-Tellergericht mit einer Sauce aus »Lindenstraße«, Wolfgang Petry, Helmut Kohl und »Wetten, dass..?«.
Plötzlich war alles in und um uns herum Pop geworden – mit hübscherer Kultur, hübscherer Kleidung, hübscheren Möbeln und ab 1998 sogar hübscheren Politikern (Schröder & Fischer). Der Stilwille war stark in den Neunzigern: Selbst der »Spiegel« erschien in Farbe und führte die Autorenzeile ein. Alles war so sehr Pop, dass die Frage »Love-Parade oder nicht« existenzieller schien als »Sein oder Nichtsein«.
Es gibt Leute, die sagen, es lag am Fall der Mauer und dem Ende des Kalten Kriegs. Es gibt Leute, die sagen, es lag am in den Siebzigern und Achtzigern erarbeiteten Wohlstand unserer Eltern. Es gibt Leute, die sagen, es lag an Berlin, der ersten Stadt, die sich eine deutsche Jugend selber bauen konnte. Es gibt Leute, Mystiker, die sagen, dass es die letzten Jahre eines ausgehenden Jahrtausends waren, die dafür sorgten, dass wir freier wurden. Stimmt alles ein bisschen.
Vor allem lag es wohl daran, dass auch im Rest der Welt alles Pop wurde – und der Rest der Welt immer näher an die Provinz Deutschland ranrückte. Anfang der Neunziger hatte ich nicht mal einen Anrufbeantworter; Mitte der Neunziger dann ein Handy und E-Mail-Adresse; Ende der Neunziger war das Fax tot und wir verabredeten uns über SMS . Anfang des Jahrzehnts war ein Anrufin Amerika ein teures »Ferngespräch«; zum Ende gab’s das Wort kaum noch.
Kaum jemand hatte diesen Wandel zum freien Fluss der Informationen so konsequent dargestellt wie der kanadische Schriftsteller Douglas Coupland. Nicht, weil sein erster Roman »Generation X« hieß, sondern weil er in Büchern wie »Microserfs« und »All Families are Psychotic« genau beschrieb, wie die Leute und Strömungen, die in den Achtzigern noch Randbereiche gewesen waren, nun den Mainstream übernahmen. Skater, Zippies, Sprüher; Jungle, Drum ’n’ Bass, Electronic Listening Music – die Subkulturen blühten auf. Programmierer, in den Achtzigern nichts als Informatik- Spacken, wurden zu Gestaltern einer neuen Zeit: Bill Gates war der reichste Mann der Welt, Apple-Chef Steve Jobs legte mit dem bunten iMac den Grundstein für den iBook-iPod-iPhone-Technikfetischismus von heute. Wie von Warhol entworfene Plastik-Diamanten funkelten seine Popcomputer von den Plakatwänden; heute braucht er diese Werbung gar nicht mehr, weil jeder zweite Mensch ein Apfel sein will.
In der Musik wurde alles, was eben noch Underground gewesen war, nach oben gespült: amerikanischer Garagenrock (Nirvana, Pearl Jam etc.), Britpop (Oasis, Blur etc.), Elektronik (Massive Attack, Portishead etc.). Im Film triumphierte Tarantino mit »Pulp Fiction« und »Reservoir Dogs« wie ein Gott über alle anderen Regisseure; bis heute ist er der Einzige, der Kino zum Erlebnis macht. In der Unterhaltung bereitete uns Pamela Anderson mit ihrem Promi-Porno auf das vor, was Paris Hilton später berühmt machen sollte: Famous for fucking. Ästhetisch wurden wir angeführt von einem ehemaligen Kriegsreporter, der ein Einrichtungsmagazin
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