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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fischer
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namens »Wallpaper« gegründet hatte: Wenn Tyler Brûlé entschied, dass man ohne weiße Lederquader im Wohnzimmer nicht leben konnte, schmissen alle ihre Sofas weg und kauften weiße Lederquader ohne Rückenlehnen, sehr unbequem. So hörig war die Welt Brûlé, dass es ihm sogar gelang, einen öden Vulkan-Felsen imNordatlantik zum Fetisch zu machen: Als Brûlé erwähnte, wie sehr ihm »der minimalistische Stil der Insel Island« gefalle, verdoppelte sich die Stadtbevölkerung Reykjaviks durch übers Wochenende einfallende Engländerhorden. Selbst Blur-Sänger Damon Albarn beteiligte sich an einer Bar dort.
    So war es, das Leben in den Neunzigern: Leicht, luftig, laisser-faire. »Living in a magazine«, der Titel eines Zoot-Woman-Albums, war das Motto, egal ob das Magazin »Wired«, »Wallpaper«, »i-D« oder »Tempo« hieß.
    Alles schien möglich: Du wolltest Musik machen, ein Buch schreiben, einen Film drehen: kein Problem, mach’s halt. Fast jedes Buch kam raus, fast jede Platte wurde veröffentlicht, fast jedes Bild ausgestellt. Darüber, wie viel man davon am Ende verkaufen konnte, dachte kaum jemand nach. Der Glaube an den Markt war groß damals; so groß, dass man mit einer Geschäftsidee, in der das Wort »Internet« vorkam, Millionen verdienen konnte. Alle waren Künstler und Geschäftsleute in den Neunzigern. Man brauchte nicht mal ein Werk zu haben oder ein Geschäft.
    Auch Til und ich sahen uns zu dieser Zeit als Künstler; ich Journalist, er Regisseur. Und darum ließen wir die Frauen Frauen sein, stiegen in meinen alten, marsroten Golf II und fuhren nach Berlin in dieser Nacht, um kurz nach zwölf, mit fünf Gramm Koks und ein paar Pillen in den Taschen.
    Die Autobahn war frei, die Sterne leuchteten über uns, ich fuhr 200 km/h oder so, und knappe zwei Stunden später waren wir da, in der Hauptstadt. Eine Million Menschen hatten sich um die Siegessäule versammelt, die Raver hatten zum Rhythmus von Westbams rührender Hymne »We’ll never stop living this way« die Macht übernommen und sich nun über die Klubs und Bars der Stadt verteilt, mit untersetzergroßen Pupillen auf der Jagd nach, wasweißich, dem besten Tanz, der besten Musik oder der besten übersinnlichen Erfahrung. Ziemlich genau das wollten Til und ich auch.

    Ich weiß nicht mehr genau, wie der Laden hieß, in dem wir landeten, ob »Walfisch«, » E – Werk« oder » WMF « – nur, dass es dort so voll und heiß war, wie ich’s später nie wieder erlebt habe, und dass ich irgendwann beim Tanzen ein Mädchen ansprach. Anschrie eher.
    »Wofür tanzen wir hier eigentlich? Für den Beat, für den Frieden, für ein neues Deutschland?«, brüllte ich. Sie trug einen Kunstgras-BH und geblümte Hotpants und sah mich stumpf an.
    »Für uns – für wen denn sonst?«, kam es dann, eine Viertelstunde später.
    »Wer ist uns?«, wollte ich wissen. »Du und ich? Wir alle? Vier alle? Und machen wir später noch Love zusammen?«
    Sie tanzte weg, so schnell wie sie gekommen war, eine schüchterne, kleine Rasenfläche.
    Alles gab’s im Überfluss in den Neunzigern: Geld, Kunst, Technik, Mode – nur Sex nicht so. Der Penis wurde zusammengedrückt, wie auf dem Bild von Wolfgang Tillmans. Die Menschen sahen sexy aus, machten aber kaum was draus. Lag’s an den vielen Drogen, am ewigen Tanz? So waren die Hippies ja auch drauf gewesen, und da hatte sich keiner über zu wenig Liebe beschwert.
    In den Neunzigern aber trugen wir keine Liebe in uns; keine wirklich verbindende jedenfalls. Dafür gab’s viele Affären. Wir waren lustig, spontan, enthusiastisch. Wir suchten die Nähe der anderen wie Hundewelpen, die ihre Mutter verloren hatten. Aber weil’s keine echten Feinde mehr gab (weder böse Russen noch explodierende Atomkraftwerke noch einen lügenden Nixon noch ehemalige Nazis), gab’s auch keine echten Freunde. Sehnsucht und Tristesse drückten sich aus in dem komplett irren Erfolg der Trauermusik der Gruppe Portishead. Give me a reason to love you.
    Das heißt nicht, dass es in den Neunzigern keine Haltung gegeben hätte. Eher gab’s zu viel Haltungen, bloß blieben wir nicht lange genug bei ihnen, um erinnern zu können, welche genau das gewesen waren. War der Anti-Irakkrieg-Protest von 1991 die Haltung? War Grunge die Haltung? Turnschuhe? Tom Ford? War Lonely Planet die Haltung? Rave? Generation Golf? Tom Kummers Guerilla-Medienzynismus? Rot/Grün? Amazon.com?
    Wenn’s etwas Verbindendes gab, dann war es Ironie.
    Was das ist, Ironie?

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