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Die Sache mit dem Ich

Die Sache mit dem Ich

Titel: Die Sache mit dem Ich Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marc Fischer
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der zehnten Klasse, mit Jacken mit Kapuzen dran, falls es mal regnete oder plötzlich ein Sturm aufkäme. Der Zwerg war klein (1.54 m) und gut in Mathe, Nullmann war groß (1.91 m) und gut in Geschichte, ich war mittel (1.82 m) und gut in nichts Besonderem. Ein Mädchen hatte keiner von uns. Dafür kannten wir das Geräusch, das es macht, wenn man eine Milchtüte an den Kopf geworfen bekommt. Plopp macht es.
    Dass wir an diesem Tag zu Michael Jackson gingen, würde unsere soziale Stellung an der Schule kaum verbessern. Im Gegenteil: 1988 war Jackson der größte Popstar der Welt, aber um Größe ging es damals nicht mehr, wenn du dich statusmäßig verbessern wolltest. Die Megastars starben gerade langsame Tode. Wer Wert auf seinen Ruf legte, zitierte Morrissey oder ging auf Konzerte der Beastie Boys oder von Public Enemy. Garantiert ging er nicht zu Michael Jackson, dessen aktuelle Platte »Bad« so schlecht war, dass man sie eigentlich gleich wegwerfen wollte. Sich über sein Loch inder Nase, die weiß gewaschene Haut und den Schimpansen Bubbles lustig zu machen, gehörte zum guten Ton. Wer zu Michael Jackson ging, wurde mit Milchtüten beworfen. Wir hatten Angst, dass man uns erkennen würde; Späher und Spitzel lauerten überall, es war nicht ungefährlich. Trotzdem hatten wir uns Karten gekauft, für fünfzig Mark das Stück.
    Ich weiß nicht mehr genau, warum Nullmann und der Zwerg mitkamen. Vielleicht kam der Zwerg mit, weil Nullmann mitkam. Vielleicht kam Nullmann mit, weil der Zwerg mitkam. Vielleicht waren wir einfach diese Art Freunde damals. Ich weiß aber noch ganz genau, warum ich hinging. Ich ging hin, weil ich das Gefühl hatte, ich sei Michael Jackson das schuldig, weil er fünf Jahre vorher eine Platte namens »Thriller« gemacht hatte. Und »Thriller« war ein Erlebnis für mich gewesen, ähnlich prägend wie Batman und Huckleberry Finn.
    Es ist eine komische Platte, auch heute noch. Streng genommen sind nur drei gute Lieder drauf: »Billie Jean«, »Beat it« und »Wanna Be Startin’ Somethin’«. Der Rest ist Durchschnitt. Nicht so brillant jedenfalls, dass er sich 120 Millionen Mal verkaufen müsste. Das ist aber egal, weil »Thriller« eigentlich gar keine Platte ist, sondern ein Film. Der visuelle Eindruck, den die Inszenierung des Albums hinterlassen hat, ist unendlich stärker als die Songs selbst. Das 18-minütige Werwolf-Video zu »Thriller«, das damals in der Sendung »Formel Eins« laufen sollte, wurde vom NDR aus Jugendschutzgründen ins Spätprogramm verlegt, auf einmal war ein Musikvideo ab 18, wie ein Porno oder Horrorfilm. Als ich es, gemeinsam mit meinem Vater, dann sah, wurde »Thriller« zu dem ersten Popsong, der mir Angst machte – und weil es so war, machte mir auch Michael Jackson von nun an ein wenig Angst. Im Gegensatz zu Batman und Huckleberry Finn existierte er wirklich, war offensichtlich echt, aber aus welcher Welt kam er? Aus den Karpaten wie Dracula? Aus dem Wunderland wie Alice? Aus Neuschwanstein wie Ludwig II .? Es war toll und verunsichernd und aufregend, dassman das nicht mit Sicherheit beantworten konnte, und auch später sollte Jackson der einzige Popstar bleiben, zu dem man sich solche Fragen stellen konnte. Die Inszenierungen von Alice Cooper und David Bowie wirken wie Spießerfantasien gegen den Welterfindungsreichtum des Michael Jackson.
    All das durchschauten der Zwerg, Nullman und ich damals natürlich nicht. Was wir allerdings ahnten und was uns anzog, war, dass Jackson dieselbe Art von Außenseitertum verkörperte wie wir. Wie wir strahlte er eher Schwäche als Stärke aus. Wie wir war er kein Sexgott (auch wenn er sich immer in den Schritt griff, aber es wirkte nicht so, als sei da ein Maschinengewehr versteckt). Wie wir schien er sich allein sicherer zu fühlen als in der Menge. Wie wir wirkte er wie etwas, was sich in Luft auflöste, wenn man es anfassen und genauer betrachten wollte. Das Leder-, Nieten- und Schnallenoutfit, das er sich für »Bad« hatte zurechtschneidern lassen, betonte diesen Eindruck nur noch. Er war kein Rocker, erst recht kein Hiphopper, sondern Edward mit den Scherenhänden, nur ohne Scherenhände.
    Wir sprachen nicht viel, als wir aus der Bahn stiegen, der Zwerg, Nullmann und ich. Wir ließen uns mit den Zehntausenden anderer Jackson-Fans zum Stadion treiben. Es war das erste Mal, dass ich mich in so einer Menge bewegte; das erste Mal, dass mir klar wurde, wie irre es ist, dass ein einziger Mensch so viele andere so irre

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