Die Säulen der Erde - The Pillars of the Earth
dem Altar nieder und verharrte dort eine Weile, denn Zorn, so berechtigt er sein mochte, vertrug sich nicht mit Andacht und Gebet. Erst als er sich ein wenig beruhigt hatte, erhob er sich wieder und ging weiter.
Im Ostteil der Kirche, gleich hinter der Vierung befand sich der Chor mit hölzernem Gestühl; dort saßen und standen während der Gottesdienste die Mönche. Dahinter lag der Schrein mit dem Grabmal des Heiligen. Philip ging um den Altar herum. Er wollte sich im Chor einen Platz suchen. Doch dann blieb er unwillkürlich stehen, denn ein Sarg versperrte ihm den Weg.
Er war vollkommen überrascht. Niemand hatte ihm gesagt, dass ein Mönch gestorben war – aber er hatte ja seit seiner Ankunft auch nur mit drei Personen gesprochen, mit dem alten Paul, der schon ein bisschen geistesabwesend war, und mit den beiden Stallburschen, die er nicht eben zu Vertraulichkeiten ermuntert hatte. Er trat näher an den Sarg heran, um zu sehen, wer der Tote war. Ihm stockte der Atem.
Es war Prior James.
Mit offenem Mund starrte Philip die Leiche an. Mit einem Mal sah alles anders aus! – Ein neuer Prior würde Einzug halten, es gab neue Hoffnung …
Die heimliche Freude war eine unbillige Reaktion auf den Tod eines verehrungswürdigen Bruders, und mochte er noch so gefehlt haben, Philip zwang sich zu einer Haltung, die dem traurigen Anlass angemessen war. Aufmerksam studierte er den Ausdruck des Toten. In seinen letzten Jahren war James ein gebeugter, schmalgesichtiger Mann mit schlohweißem Haar gewesen. Von der für ihn so typischen Leidensmiene war jetzt nichts mehr zu sehen; aller Kummer und alle Verzweiflung waren aus seinem Antlitz gewichen. Er hatte Frieden gefunden. Philip kniete neben der Totenbahre nieder und fragte sich, worunter der alte Mann in seinen späten Jahren so gelitten hatte. Gab es da vielleicht eine Sünde, die er nie zu bekennen gewagt hatte? Hatte er um eine Frau getrauert oder einem Unschuldigen Unrecht zugefügt? Was immer es sein mochte – James würde erst am Tag des Jüngsten Gerichts darüber sprechen.
Die Gedanken über die Zukunft ließen sich trotz bester Absichten nicht vertreiben. Prior James, ein furchtsamer Mann ohne Entschlusskraft und Rückgrat, hatte das Kloster langsam verfallen lassen. Nun würde ein frischer Wind wehen. Ein neuer Mann würde kommen, die arbeitsscheuen Diener und Knechte in die Pflicht nehmen, den eingestürzten Kirchturm wieder aufbauen lassen und den gewaltigen natürlichen Reichtum der Priorei sinnvoll nutzen. Das Kloster würde wieder zu einer großen moralischen Macht werden. Philip war zu aufgeregt, um länger stillzuhalten. Er erhob sich und schritt mit ungewohnter Leichtigkeit zum Chor, wo er sich auf einer der hinteren Bänke einen freien Platz suchte.
Andrew von York, der Sakristan, leitete den Gottesdienst. Er war ein leicht erregbarer, rotgesichtiger Mann, der immer so aussah, als würde ihn im nächsten Augenblick der Schlag treffen. Er gehörte zu den Klosteroffizialen, die für die Verwaltung zuständig waren. In seinen Verantwortungsbereich fielen die Gestaltung der Gottesdienste, die heiligen Bücher und Reliquien, die liturgischen Gewänder und die Kirchendekoration, vor allem aber auch die Instandhaltung der Kirche. Er hatte einen Kantor unter sich, der für die Musik zuständig war, und einen Schatzmeister, dem die Aufsicht über die juwelengeschmückten goldenen und silbernen Kerzenhalter und Kelche und die anderen geweihten Gefäße oblag. Über dem Sakristan standen lediglich noch der Prior und Subprior Remigius, mit dem Andrew seit langem eng befreundet war.
Andrew las die Psalmen mit kaum verhülltem Zorn, so wie es seine Art war. Philip war noch immer ganz durcheinander, weshalb ihm erst nach geraumer Zeit auffiel, dass der Gottesdienst nicht in der gebotenen Form stattfand. Da gab es eine Gruppe jüngerer Mönche, die herumalberten und sich ungeniert unterhielten. Philip erkannte bald, dass sie sich über den alten Novizenmeister lustig machten, der auf seinem Sitz eingenickt war. Die meisten von ihnen waren erst vor Kurzem aus seiner Obhut entlassen worden und erinnerten sich wahrscheinlich noch gut an die harte Hand, mit der er sie geführt hatte. Sie schnippten Dreckkügelchen nach ihm. Jedes Mal, wenn sein Gesicht getroffen wurde, zuckte er zusammen und bewegte sich unruhig hin und her, ohne jedoch aufzuwachen. Andrew schien von alledem nichts zu bemerken. Philip hielt nach dem Cirkator Ausschau, der für die
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