Die Saga vom Eisvolk 01 - Der Zauberbund
so stark betroffen, ich habe nicht so viele Fähigkeiten. Ich bin nur unglaublich empfänglich für Spannungen und Gefühle zwischen den Menschen, und ich habe höllisch brennende Hände. Nein, wir haben da in unserer Familie ganz andere unglückselige Gestalten, die du dir gar nicht vorstellen kannst. Den Wahnsinnstaten gegenüber, zu denen sie fähig sind, bin ich machtlos. Nein, der Auserwählte ist bis jetzt noch nicht geboren worden. Und ich werde dafür sorgen, dass das auch nie geschieht!«
Sie sah ihn fragend an.
»Ich habe mir geschworen, dass das böse Erbe mit mir aussterben wird. Niemals in den Armen einer Frau liegen... der gefährliche Same, den ich in mir trage, darf nicht weitergegeben werden.«
Silje schlug die Augen nieder, wollte nicht, dass er ihre Gedanken lesen konnte, die Hoffnung, die sie genau in dem Augenblick verließ. Sein Widerwille, als sie zu seiner Hütte gekommen war... konnte der in Zusammenhang damit stehen, dass...
Nein, natürlich nicht!
Aber sie musste noch eine Frage stellen. »Aber wenn Ihr an den »einen Auserwählten› glaubt, glaubt Ihr dann nicht auch an die Zauberkraft des ersten Tengel?«
Das wölfische Grinsen verglomm zur Irritation. »Eigentlich nicht. Ich glaube, wie gesagt, dass er nur einiges erfunden hat. Es gibt viele, die mit Messiasträumen herumlaufen. Auch wenn er vom Gegenteil des göttlichen Messias geträumt hat. Aber das Erbe allein ist eine so schwere Bürde, dass ich das nicht weiterführen will.«
»Seid Ihr der Einzige in Eurer Generation?«
»Ja. Eine Zeit lang glaubten wir, dass meine Schwester auch etwas von dem bösen Erbe abbekommen habe, aber es hat sie glücklicherweise nicht getroffen. Dann verließ sie die Berge, Silje. Verließ sie wegen der Liebe und ließ sich mit ihrem Mann in Trondheim nieder, ohne den Mut zu haben, zu erzählen, dass sie zum Eisvolk gehört. Denn es ist so, wenn jemand vom Eisvolk festgenommen wird, dann wird er auf der Stelle getötet. Dann wird sein Körper verbrannt und die Asche tief in der Erde vergraben, damit sie keinen Zauber mehr anrichten kann. Wir hörten, dass meine Schwester zwei kleine Töchter bekommen hatte, Angelica und Leonarda. Ich wollte sie in jener Nacht besuchen, als wir beide uns begegnet sind, Silje. Wir machten uns Sorgen um sie und die Kinder. Aber ich fand sie nicht.«
Silje starrte vor sich hin.
»Woran denkst du?«, fragte er. »Du siehst so angespannt aus.«
»Wie alt waren die kleinen Töchter?«
»Sehr klein. Die Jüngste war noch ein Säugling.«
»Nadda... Leonarda?... Tengel...«
»Na, endlich nennst du mich beim Namen«, murmelte er undeutlich. Silje bemerkte es kaum, so aufgeregt wie sie war.
»Tengel... Mein Gott, ich glaube...«
»Was denn?«
»Ich glaube, deine Schwester ist tot.«
Er starrte sie an. »Wieso glaubst du das?«
»Du weißt doch, wie ich Sol gefunden habe, nicht wahr? Beim Leichnam ihrer Mutter. Eine hübsche Frau mit schwarzen, gelockten Haaren und dunklen Augen. Als wir – also Sol und ich – später im Wald den Säugling schreien hörten, zog das Mädchen mich dorthin, und die ganze Zeit murmelte es ›Nadda‹. Mir kam da sogleich die Idee, dass sie eine kleine Schwester oder einen kleinen Bruder mit ähnlichem Namen gehabt haben musste. Ein Kind, das ganz sicher an der Pest gestorben war.«
»Leonarda? Guter Gott«, flüsterte Tengel. »Du hast ganz recht, Silje. Ich habe das Zeichen in Sols Gesicht gesehen. Die Ähnlichkeit mit dem Eisvolk. Aber ich konnte mir nicht vorstellen...«
Er sprach nicht weiter. Das alles schien zu viel für ihn zu sein. Und es sollte noch schlimmer kommen:
»Ach, Tengel«, stöhnte Silje verzweifelt. »Ich habe Angst, dass... dass Sol das böse Erbe in sich trägt! Ihr ungewöhnliches Gemüt, die nahezu hexenhafte Wildheit. Sie benimmt sich oft ganz und gar unbegreiflich. Und obendrein habe ich ein seltsames, abwesendes Schweigen bemerkt, das sie hin und wieder überkommt.«
»Ja!«, rief er aus. »Ja, das ist eins der ersten Anzeichen. Oh mein Gott! Das arme Kind! Sol – ist sie meine Nichte Angelica? Ich kann es nicht glauben. Und meine Schwester ist tot! Das alles ist so unbegreiflich schrecklich.«
Allmählich zerriss der feindliche Panzer, mit dem er sich umgeben hatte. Silje ließ ihm Zeit, mit all den tragischen Geschehnissen, die ihn überwältigt hatten, fertig zu werden. Am liebsten wäre sie zu ihm hinübergegangen und hätte die Arme um ihn gelegt, nur um ihr Mitgefühl auszudrücken. Doch das
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