Die Saga vom Eisvolk 01 - Der Zauberbund
verursacht habe – so blieb ihr jedenfalls erspart zu sehen, welches Ungeheuer sie in die Welt gesetzt hat.«
»Tengel!«, bat sie ihn unglücklich.
Er schwieg.
»Es gibt noch einen Grund, siehst du, Silje...« Er ging zum Eckschrank und stellte sich mit dem Rücken zu ihr. »Noch einen Grund, warum ich allein leben muss, finde ich. Du hast meine Schultern gesehen, nicht wahr?«
»Ja«, sagte sie leise. »Ist das eine Verletzung?«
»Nein, keine Verletzung. Ich bin so geboren. Die haben meiner Mutter das Leben gekostet. Sie ist verblutet.«
»Oh«, seufzte Silje, so mitfühlend wie nur möglich.
»Ja. Und ich will nicht, dass es noch einmal... einer anderen Frau zustößt«, schloss er rasch.
»Du willst damit sagen, ...dass es vererbt werden kann?«
»Ja. Das kann man doch nie wissen.«
Er ging zum Tisch hinüber und deckte ihn weiter.
Zum Schluss wurde es geradezu eine Festtafel.
»Unser Weihnachtsfestessen«, lächelte Silje mit einem Kloß im Hals. Sie setzten sich einander gegenüber an den grob gezimmerten Tisch, der die Patina der Zeit trug. Tengel, der konsequent vermied, Silje anzuschauen, schenkte ihnen Benedikts Branntwein ein.
Sie zögerte. »Ich trinke nie solche starken Getränke. Ich weiß nicht, ob mir das bekommen wird.«
»Jetzt ist doch Weihnachten, Silje. Und vor mir brauchst du keine Angst zu haben, das weißt du doch.«
»Das weiß ich. Aber ich dachte dabei eigentlich weniger an dich. Es ist meinetwegen
Sie schwieg erschrocken.
Er schob das Fässchen von sich. »Du bist wirklich ein merkwürdiges Mädchen. Eine Mischung aus fast übertriebener Tugendhaftigkeit und sehr sinnlicher Ausstrahlung, verbunden mit ungewöhnlicher Offenheit. Ich weiß nicht, welche von diesen beiden Seiten die wahre Silje ist.«
Silje musste nachdenken. Das mit der sinnlichen Ausstrahlung ließ sie heiß werden, sie wagte jedoch nicht, weiter über die Sache nachzudenken.
»Ich hätte so gern jemanden zum Reden gehabt über mich. Eigentlich hatte ich nie jemanden. Mit Herrn Benedikt kann man sich sehr gut unterhalten, doch er redet nur über seine Kunst und sich selbst...«
Tengel lächelte zum ersten Mal seit ihrer Ankunft. Vielleicht ermunterte ihn die feierliche Stimmung bei Tisch dazu. »Mit mir kannst du reden.«
Sie sah hinunter. »Wenn du... es denn hören willst?«
»Ich bitte darum.«
Sie spürte, dass er meinte, was er sagte. Etwas altklug sagte sie: »Ich glaube, das hängt folgendermaßen zusammen: Ich bin zur Schüchternheit, fast zur Menschenscheu erzogen worden. Vater war sehr streng, und Mutter war religiös. Sie verurteilte alles, was mit Liebe zu tun hatte und... und dem anderen, was du erwähnt hast.«
»Erotik?«
»Ja, genau«, murmelte sie schnell. »Alles war Sünde, einfach Sünde! Das hat sich mir eingebrannt. Zu Hause auf dem Hof war ich einige Male den Zudringlichkeiten der Männer ausgesetzt, und ich flüchtete erschrocken und fast angeekelt, bevor sie mich anfassen konnten. Aber als ich dann so einsam war, in der grauenvollen Zeit, als alle gestorben waren, an die zu denken ich mir nie gestatte, denn sonst würde ich zusammenbrechen
Sie holte Luft und versuchte, den Gesprächsfaden wieder aufzunehmen. Tengel saß, die Ellenbogen auf dem Tisch, unbeweglich da und faltete die Hände. Jetzt betrachtete er sie forschend, hatte nicht einmal Zeit zu trinken.
»Als ich mutterseelenallein in der Welt herumzog, wurde ich oft belästigt, vor allem in Trondheim. Ich hatte ja keine Unterkunft, sodass ich mich in Torwegen und dergleichen schlafen legen musste. Da lernte ich, mich zu verteidigen. Und ich bin immer noch Jungfrau, das musst du mir glauben.«
Er kam zu sich und nahm einen kräftigen Schluck von dem Branntwein. »Das glaube ich dir auch«, murmelte er und schenkte sich neuen Schnaps ein.
»Da lernte ich, hart zu sein«, fuhr sie fort, »auch wenn es am Anfang schwer für mich war, weil Härte mir gegen die Natur geht. Diese Kühnheit und die freimütigen Äußerungen, die du von mir kennst, sie sind Folgen dieser Zeit. Weil ich nur schlimme Dinge hörte und sah. Meine natürliche Schüchternheit und all das Hässliche, das ich erlebt habe, haben bei mir zu einem einzigen Durcheinander geführt. Aber dann... nein, nun will ich nicht mehr.«
»Doch. Jetzt kommt doch erst das Wichtigste.«
»Nein, ich kann nicht.«
Er wurde böse. »Du hast gesagt, du vertraust mir.«
»Du hast mich heute nicht gerade dazu ermuntert«, sagte sie mit gesenktem
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