Die Saga vom Eisvolk 01 - Der Zauberbund
beraubt – und Charlotte hatte in einem Glücksrausch geschwebt. Bis sie dann erst erfuhr, dass er bereits verheiratet war, und dann feststellen musste, dass sie ein Kind von ihm erwartete.
Aber all das war jetzt unwesentlich.
Wenn sie nur die Zeit zurückschrauben und das Kind wieder in den Armen halten könnte! Dieser trostlose, unrealistische Wunsch ging ihr ständig im Kopf herum. Ein ums andere Mal durchfuhr sie der schreckliche Gedanke an den Kleinen, der unschuldig und verlassen dort draußen im Wald gelegen hatte. Die Tage, die vergingen – das Essen, die menschliche Wärme, die niemals kamen.
Nein!
Sie warf sich herum und begrub ihren Kopf im Kissen.
Wenn sie doch nur jemanden gehabt hätte, mit dem sie hätte reden können, jemanden, dem sie ihre Verzweiflung hätte anvertrauen können.
Dem Pastor? Nein, er würde es nicht verstehen – nur verurteilen. Alle wollten verurteilen.
Aber verlangte es sie im Grunde nicht gerade danach? Nach jemandem, der sie verurteilte, der sie auf die Knie zwang, der sie rügte, der sie schlug?
Aber das hätte ihr das Kind auch nicht zurückgegeben.
Da war auch noch ein anderer Gedanke, der sie quälte.
Es war unselig, das Kind. Sie hatte ein ungetauftes Kind ausgesetzt! Sollte sie hingehen und eine Messe lesen...?
Nein, sie würde nie, nie wieder dorthin zurückgehen können!
Könnte sie den Pastor darum bitten?
Sie konnte sich dazu nicht überwinden.
Feigheit! Angst vor dem, was sie dort draußen vorfinden würde.
Sie war damit verloren. Was für ein Leben hatte sie zu erwarten?
Durch das endlose Gerüttel im Wagen wurde Sol langsam müde. Hungrig war sie auch. Silje holte den Proviantkorb hervor und gab ihr zwei Kekse. »Gib einen dem Kutscher«, sagte sie. Sol war sogleich bereit dazu. »Hier, Mann.« Er nahm ihn feierlich an. »Vielen Dank. Willst du ein bisschen hier bei mir sitzen?«
Das wollte Sol gern. Sie hat einen Hang zu Männern, dachte Silje lächelnd. Zu Hause war der Knecht ihr Favorit gewesen. Und jetzt der Kutscher. Rund wie ein Ball saß sie da, mit mehreren Lagen dicker Winterkleidung, die Grete ihr angezogen hatte, und hielt die eine kleine Hand an den Zügeln. Hin und wieder drehte sie sich um, um zu sehen, ob Silje sah, wie schön sie dort saß.
Die Landschaft war wild und fremd. Nachdem sie das Dorf aus dem Blickfeld verloren hatten, waren sie zwischen schwarzen, steil abfallenden Felswänden angelangt. Der »Weg« war schon längst verschwunden, doch der Kutscher wusste offenbar, wo er weiter vorwärtskommen konnte. Silje betrachtete mit Sorge die Radspuren, die sie im Schnee hinterließen – so leicht zu verfolgen!
Sie folgten einem Fluss. Die Felswände hatten die schwersten Schneestürme abgehalten, sodass die Schneedecke recht dünn war. Jedenfalls nicht so dick, dass Pferd und Wagen sie nicht hätten bewältigen können. Doch je höher sie kommen würden, umso fester würde der Schnee werden, das war ihr klar.
Wie weit wollten sie eigentlich?
Wohin sie auch sah, war düstere Wildnis. Der Wind heulte im Bergpass, durch den sich der Fluss presste, und groteske Eisformationen stauten den Fluss. Es gluckerte und gurgelte in tiefen Löchern, Kaskaden stürzten herab, die zum Teil zu Eis gefroren waren. Bisweilen war das Tal derart eng wie Trondheims Gassen mit den hohen Häusern zu beiden Seiten.
Hier aber war keine menschliche Gestalt, nicht ein Haus zu sehen. Nur ein gefährlicher Fluss verlief dicht, dicht neben ihnen. Mitunter war sie steif vor Schreck und umklammerte Dag krampfhaft, wenn sie am Rande des Flussufers entlangfahren mussten. Da hatten auch die Pferde Angst, wie sie feststellte.
Endlich kamen sie aus dem schmalen Tal heraus und hatten die Hochebene vor sich. Die Berge hatten sich nach allen Seiten zurückgezogen – und nun kam Wind auf. Eiskalt wehte er den Schnee zu dichten Wirbeln auf. Schleunigst holte Silje eine Decke hervor, und Sol musste gegen ihren Willen den Kutschbock verlassen, um bei Silje Schutz zu finden. Sie saßen wie in einem kleinen Haus, Silje in der Mitte mit einem Kind auf jeder Seite.
»Wie sollen wir da durchkommen?«, rief sie dem Kutscher zu, der vor lauter Kälte einen hellen Tropfen an der Nase hängen hatte.
»Das hier ist doch nur gut für uns«, rief er zurück, während er sich zusammenkauerte. »Der Wind fegt alle Spuren hinter uns fort. «
Das war ihr klar. Gleich darauf sprang er hinunter und kam zu ihnen nach hinten. »Muss auf Kufen umstellen«, schrie er, wobei der
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